Auch an
@Aporie:
Ich denke ich habe ein sehr normales Freiheitsempfinden und das habe ich gerade zuvor wieder beschrieben:
Selbstbestimmt eine Wahl zwischen mehreren realen Alternative zu treffen.
Ja, Du hast ein normales Freiheitsempfinden, aber das allein wäre noch kein Argument und Deine Definition hier ist so umfassend, dass auch Kompatibilisten sie abnicken. De facto ist das sogar ihre Definition. Insofern ist das nicht der Streitpunkt sondern interessanterweise tatsächlich der Determinsimus.
Über den sind wir uns aber alle einig, was den Punkt angeht, dass mit dem Urknall (oder einem anderen Startpunkt) alles(!) bereits feststand.
Offenbar sind wir uneinig, was daraus folgt.
Das Argument ist: Was schon fest steht, ist bereits entschieden, also kann ich es nicht mehr selbst entscheiden. Siehst Du das so?
Aber wie weit darf man diese Argumentation ausreizen? Es würde auch feststehen, dass es unseren Körper gibt. Könnte man sagen, es gibt keinen Körper, denn es stand schon fest, dass er entstehen würde? Das würde niemand behaupten. Der Unterschied zum Willen ist, dass wir auch nicht behaupten, wir hätten unseren Körper gemacht.
Was ist also mit dem Ich? Da sind wir wieder im kontraintuitiven Bereich, d.h. unser normales Empfinden lässt uns hier im Stich.
Denn unser normales Empfinden zur Ichentstehung geht ungefähr so, dass unser Ich schon immer irgendwie da ist, wenigstens in seinen grundlegenden Empfindungen und wenn wir dann lernen uns sprachlich auszudrücken, haben wir die notwendigen Mittel um zu sagen, dass uns kalt ist, wir Hunger haben oder traurig sind. Aber empfunden haben wir immer schon so.
Das glauben wir alle, das glaubte Freud, das glauben manche Psychologen bis zum heutigen Tag, Ludwig Wittgenstein und Melanie Klein waren anderer Ansicht. Wittgenstein sagte, dass wir uns unsere eigene Innenwelt mit Hilfe der Sprache, die wir lernen erst erschließen müssen und diese Erschließung ist nicht wie eine Grabung, bei der man Vorhandenes findet, sondern man konstituiert seine Innenwelt, man erschafft sie zu einem sehr bedeutenden Teil.
Melanie Klein ist Pionierin der Objektbeziehungstheorie (das ist ein starkes Teilgebiet der modernen, wissenschaftlichen Psychoanalyse) und auch sie sagt, das wir erst durch das verstehende und distanzierende Umfassen dessen was wir bis dahin waren, zum Ich in dem Sinne werden, wie wir das heute meinen. Ein Ich, was zur Impulskontrolle in der Lage ist, seine primären Affekte zügeln kann und daher einen Zugang zu völlig neuen Empfindungen hat. Wodurch? Dadurch, dass es versteht (und das bekommt das Kind primär von der Mutter erklärt), dass es Angst hat, Fieber hat, ärgerlich oder glücklich ist.
Und noch einer:
„Mir hat es nie eingeleuchtet, dass das Phänomen des Selbstbewusstseins etwas Ursprüngliches sein soll. Werden wir uns nicht erst unter den Blicken, die ein Anderer auf uns wirft, unserer selbst bewusst? In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich mir nicht nur meines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft.“
(Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2005, S.19)
Die Zutaten, Ursachen sind auch hier benennbar. Sie mögen sehr komplex sein, aber sie sind doch halbwegs rekonstruierbar. Aber kann ich sagen, dass es mein Ich nicht gibt, weil ich ja schon primäre Affekte oder eine Mutter habe? Bereits über einen Körper, ein Gehirn und um die 20 Neurotransmittersysteme verfüge? Weil die Sprache, mit der ich mein Innen erschließe und konstituiere ja nicht von mir erfunden wurde? Wir finden immer irgendwelche Bedingungen, die sind, wie sie sind.
Durch oder mit diesen entstehen vollkommen unterschiedliche Innenwelten und Weltbilder.
Die Psychoanalyse hat diese Innenwelten und ihr Erleben wie sonst niemand nachgezeichnet und Melanie Klein fand (anders als Freud, der nur die dritte Schicht kannte) dass das Über-Ich/Gewissen aus drei Schichten entsteht. Die erste ist sadistisch-verfolgend - da können die Eltern so lieb sein, wie sie wollen - ständig greift das kontrollierende Andere in das Leben ein und es ist maßlos überlegen. Eine Innenwelt der Verbote.
Die zweite Schicht kommt mit etwa 18 Monaten, wenn das Kind zu verstehen beginnt, dass es selbst in der Lage ist, die Wünsche der Mutter zu erfüllen und es selbst in der Hand hat Mamas Sonnenschein zu sein. Die Welt der Gebote. Es erlebt sich zum ersten Mal als autonomen Akteur und überschätzt seine Fähigkeiten maßlos, reizt sie jedoch auch maximal aus.
Freud fand und sah zunächst nur die dritte Schicht des Über-Ich, die rational abwägende als das Über-Ich an und dachte, es entstünde erst vom 4. bis 6. Lebensjahr. Das Empfinden ist, dass die Welt nicht unter geht, wenn man mal etwas nicht sofort bekommt und auch dann nicht, wenn man ein Gebot nicht vollumfänglich erfüllt hat. Diese Schicht ist bremsend, dämpfend, nicht nur bezogen auf die primären Affekte, sondern auch auf die eigenen Perfektionsansprüche. Das Gewissen ist ein Kernbestandteil eines Ich, wo es fehlt oder reduziert ist, sprechen Psychologen von Ich-Schwäche.
Wir sehen also, dass man die Ichentstehung rekonstruieren kann, das was schon qua Geburt da ist, wird in konzentrischen Kreisen oder Schichten erweitert. Die Zutaten sind alle schon da. Wo behindern sie die Ichentstehung oder die Reifung und Differenzierung des Ich? Wo brauchen wir den Zufall als notwendigen Bestandteil?