Die Lehre vom lebendigen Gott.
Sie wird in einem Buch von Giordano Bruno beschrieben mit dem Namen: "Die heroische Leidenschaft." Es heißt, sie war schon in den antiken Mysterienkulten bekannt.
Im Gegensatz zu Nietzsches "toten Gott" steht der lebendige Gott außerhalb jeder Religion oder Glaubenssystems. Er heißt lebendig, weil er sich jedem Einzelnen auf andere Weise zeigt, die nur ihm (dem Individuum) entspricht. Er ist lebendig, weil er lebendig, frei gestaltbar, völlig unterschiedlich mit allem Lebendigen, also auch mit den Menschen kommuniziert. Deshalb ist er aber auch nur subjektiv erfahrbar und kann nicht Inhalt irgendeiner Religion, eines Glaubenssystems, einer Kultur oder einer anderen Art von Sozialisation oder Bekenntnis sein. Der lebendige Gott kann sich auf jede nur denkbare Weise offenbaren, als Mensch, als Tier, als Mann, als Frau, als Mann und Frau, als viele Götter, als abstrakte Idee usw. usw., aber eben jedem Einzelnen in anderer Gestalt und auf andere Weise. Seine eigentliche Gestalt ist aber nicht erfahrbar, bleibt als das Eine verborgen.
Das bedeutet, dass der Mensch, wenn er seine ureigenste existenzielle Wahrheit erfahren will, die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? diese nie von außen in Form einer Sozialisation erfahren kann, sondern nur individuell und subjektiv.
Diese Lehre stößt nicht auf sehr viel Gegenliebe, weil sie den Menschen, wie er sich selbst versteht, als Person eingebettet in eine Kultur, die ihm Wert und Identität gibt, in eine Religion, in die Normen einer Zivilisation, in ein Wertesystem, in eine Tradition, eine übergeordnete Gemeinschaft, völlig in Frage stellt und jedes Machtsystem, das auf Werten beruht, gefährdet. Es heißt, sie stehe für völlige Anarchie. Deshalb war sie auch geheim und wurde nur kryptisch weitergegeben.
Um den lebendigen Gott erfahren zu können, muss sich der Mensch vorher von seiner Sozialisation, seiner kulturellen Prägung befreien, und er muss die Trennung von Eros und Logos, die in jeder Religion und Kultur auf andere Weise praktiziert wird, aufheben, d. h. Fühlen und Denken, Emotionen und Verstand müssen sich für die Erkenntnisfähigkeit wieder verbinden. Er muss die Individuation, die von C.G. Jung als unerreichbares Ziel bezeichnet wurde, erreichen und vollenden.
Giordano Bruno schrieb das so: Wer richtig urteilen will, muss sich von der Gewohnheit des Glaubens frei machen, muss zunächst Behauptung und Gegenbehauptung für gleichermaßen möglich gelten und vollständig jede Voreingenommenheit fahren lassen, die ihm vom Mutterleibe an eingeimpft worden ist.
Die Lehre wird auch symbolisch dargestellt durch den Baum der Erkenntnis, wobei Erkenntnis nicht Wissen bedeutet, sondern Bekenntnis. Das bedeutet, dass ein Mensch, der sich bekennt, zu einem Gott, einer Religion, einem Wert, einem Gut und Böse, das Reich des lebendigen Gottes verlässt und seine eigene Identität verliert.
Giordano Brunos eigene Motivation, dieses Buch zu schreiben, war auch die Erfahrung, dass in seiner Zeit in ganz Europa Religionskriege wüteten. Er wollte eine Möglichkeit zeigen, Spiritualität zu erfahren, ohne sich gegenseitig die Köpfe einschlagen zu müssen, weil jeder sie anders sieht und trotzdem seine Sichtweise für die einzig mögliche und wahre hält. Wenn jeder Gott anders erfährt, können sich die Menschen über ihre unterschiedlichen Vorstellung oder auch Werte friedlich austauschen, können sich sogar darüber freuen, auf wieviele unterschiedliche Arten Gott sich zeigen kann, und würden keine Kriege mehr führen.
Mit dieser Mission ist er aber grandios gescheitert und endete stattdessen auf dem Scheiterhaufen. Seine Idee war seiner Zeit zu weit voraus, wie viele andere Ideen von ihm auch. Sie ist auch heute noch nicht aktuell, aber vielleicht irgendwann in der Zukunft.