AW: Religionsbegriff
Religiosität hat aus meiner Sicht nichts mit Religion zutun.
Es ist eine Empfindungsweise, mit der man leben kann. Mit oder ohne Quelle.
Religion ist für die, die an hirarchische Strukturen glauben, an Lehrer, Staat, Experten, Obama und dass Eltern "mehr" sind, als Kinder. Wer das noch möchte, kann über Religionen nachdenken. Religion ist aber vielleicht auch für die, die über diesen Umweg die Hirarchien im Denken erkennen und vielleicht ablehnen wollen. Über Religion streiten, ist wie über Ehe streiten. Oder ISIS oder ein Tamagotchi.
Bitte mir nachzusehen wenn ich dieses Thema nochmals aufgreife - ich bin erst seit gestern hier und es ist für mich recht zentral...
Die Meinung von Bernd ist sehr weitgehend auch die meine, wenn auch die Terminologie etwas differiert - für 'Religiosität' würde ich 'Religion' setzen, und für 'Religion' dann 'Konfession'. Der Grund dafür ist die Etymologie - 'Religion' ist die Verdeutschung von lat. 'religio', das häufig zurückgeführt wird auf 'religare' (zurückbinden) - diese Deutung geht zurück auf den Kirchenlehrer Lactantius; die Substantivierung heißt hier jedoch 'religatio' (Das Anbinden). Cicero hat es auf 'relegere' (nochmals lesen, wieder durchgehen) zurückgeführt, der 'Georges', das lat. Standardwörterbuch, auf 'religere' (genau beachten), eine Nebenform davon (dann wäre die Substantivform allerdings eher 'relictio'...).
Daraus geht IMO a) hervor, dass das Wort
nicht von einer bestimmten Konfession für sich allein reserviert werden kann, und b) dass es dabei ursprünglich
nicht um Glaubensinhalte geht, sondern um eine
Zugangsweise, Haltung der 'Natur' (der manifesten Wirklichkeit) gegenüber. Im Englischen ist diese Bedeutung noch erhalten in dem Wort 'religiously', das nicht 'gläubig' heißt, sondern 'gewissenhaft, peinlich genau' - wenn ich 'nochmals hinsehe', 'genau betrachte', dann
hinterfrage ich, was sich dem ersten Blick darbietet - was der platte Materialismus als Einziges anerkennt...
Religiös wäre also nicht jemand, der einer bestimmten Konfession anhängt, sondern wer ernsthaft versucht, die 'Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit' zu sehen - auf welchem Weg auch immer. Ein kurzer Text Wittgensteins, den ich einmal zufällig gefunden habe, bestärkt mich hier zusätzlich.
Den (automatischen) Konnex
Religion mit
Gott sehe ich mit großer Skepsis. Es gibt ja nicht nur den Buddhismus als 'a-theistische' Religion, auch die Jaina, der ursprüngliche Taoismus, und div. hinduistische Sekten (das ist dort kein abwertender Begriff) kennen keinen Gott im Sinne der abrahamitischen Religionen bzw. lehnen dieses Bild ausdrücklich ab. Deren Gläubigen die Eigenschaft 'Religiosität' deshalb aberkennen zu wollen, scheint mir nicht richtig. Für sie ist der Begriff 'Gott' ebenso exotisch wie 'Nirvana' für einen Zeugen Jehovahs...
Vor vielen Jahren hat mich einmal eine chinesische Ch'an(Zen)-Lehrerin in einem Gespräch unvermittelt gefragt "Kannst Du mir sagen, was Christen genau unter 'Gott' verstehen? Ich kann mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen!" - und ich bin sicher, dass sie nicht
weniger religiös war als irgendeine christliche Nonne...