Was wird hier über Wahrheit gesucht?
Auch nach mehr als 400 Diskussionsbeiträgen ist hier anscheinend immer noch nicht klar,
ob mit der Fragestellung des Thread-Titels nun nach richtigen Wahrheiten gefragt wird,
oder nach richtigen Begriffen von "Wahrheit".
Vereinzelt wurden zwar schon unterschiedliche Begriffe von "Wahrheit" angesprochen,
aber nicht weiter diskutiert.
Ich skizziere hier einmal, abseits von diversen gängigen Wahrheitstheorien,
mein eigenes Verständnis von unterschiedlichen Begriffen von "Wahrheit".
1. Der Begriff von einer naiv-realistischen objektiven Wahrheit.
Bei diesem Begriffsverständnis gilt eine Aussage dann als wahr, wenn sie mit dem offenkundigen
(mesokosmischen) realen Geschehen oder den realen Gegebenheiten übereinstimmt.
Dabei sind sowohl die zur Bildung der Aussage verwendeten Worte mit der allgemeinen umgangssprachlichen
Bedeutung zu nehmen, als auch die Realität gemäß der allgemeinen Erfahrung anzusetzen.
Diesem Begriff von Wahrheit kommt für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft eine
herausragende Bedeutung zu. Die Bildung eines Vertrauensverhältnisses der Menschen untereinander
hängt sehr stark von der Wahrhaftigkeit in diesem Sinne ab, und die Rechtsprechung ist überwiegend
damit beschäftigt, über das Vorliegen von wahren Aussagen in diesem Sinne zu urteilen.
Bei der Bildung von Vertrauensverhätnissen und in der Rechtssprechung wäre jedwede Relativierung,
jedwedes Verwässern und Verwischen der Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, völlig fehl am Platz.
Ein Gerede von einer "subjektiven Wahrheit" wäre Gift für die Vertrauensbildung und würde den Keim
für Misstrauen, Zank, und Hader in die zwischenmenschlichen Beziehungen hineintragen.
Die Unanfechtbarkeit der naiv-realistischen objektiven Wahrheit wird zwar durch die Mehrdeutigkeit
von Worten konterkariert, jedoch besteht über die Bedeutung von Worten ein sehr weit gehender Konsens
(ein solcher Konsens muss wohl bestehen, weil ansonsten ja keine verbale Kommunikation möglich wäre).
Ähnliches kann von der Erfahrung der Realität gesagt werden.
Zur Verdeutlichung dieses Begriffsverständnisses von Wahrheit schauen wir uns ein fiktives Beispiel an.
Angenommen, ich würde hier schreiben: "Der Diskutant X ist ein extrem schludriger, aktivschwafelnder,
größenwahnsinnig aufgeplusteter Phrasen-Nachplappergei, dessen Bewusstseinsklarheit häufig als
durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen getrübt erscheint."
Sobald diese meine Feststellung hier im Forum veröffentlicht wäre,
würde für die Leser folgende Aussage als objektiv und unanfechtbar wahr gelten:
"Neugier hat geschrieben, dass der Diskutant X ein extrem schludriger, aktivschwafelnder,
größenwahnsinnig aufgeplusteter Phrasen-Nachplappergei ist, dessen Bewusstseinsklarheit häufig als
durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen getrübt erscheint."
Im Gegensatz dazu, wäre folgende Aussage objektiv und unanfechtbar unwahr:
"Neugier hat niemals geschrieben, dass der Diskutant X ein extrem schludriger, aktivschwafelnder,
größenwahnsinnig aufgeplusteter Phrasen-Nachplappergei ist, dessen Bewusstseinsklarheit häufig als
durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen getrübt erscheint."
An diesen naiv-realistisch objektiv wahren bzw. unwahren Aussagen wäre nichts zu rütteln und zu deuteln.
Die eine Aussage ist wahr, die andere ist unwahr. Schluss! Aus! Basta!
Ein Gerede von einer "subjektiven Wahrheit" wäre in diesem Zusammenhang nur sinnloses Gebrabbel.
2. Der Wahrheitsbegriff in der Logik.
In der Logik gilt eine Aussage dann als wahr, wenn sie durch korrekte Anwendung der Regeln für
Schlussfolgerungen aus den zugrundegelegten Prämissen abgeleitet wurde.
Eine logisch wahre Aussage muss deshalb nicht notwendigerweise mit der Realität übereinstimmen.
Sie wird dann nicht übereinstimmen, wenn schon eine der zugrundegelegten Prämissen nicht mit der Realität
übereinstimmt.
Aus realitätswidrigen Prämissen können realitätswidrige Schlussfolgerungen gezogen werden,
die aber dennoch logisch wahr sind.
Soll eine realitätskonforme Aussage durch Anwendung von Logik abgeleitet werden,
so sind zuvorderst die Prämissen auf eine Übereinstimmung mit der Realität zu überprüfen.
3. Der metaphysische Wahrheitsbegriff.
Wenn sich Aussagen über die Beschaffenheit der Welt und die geltenden Gesetzmäßigkeiten nicht auf einen
bestimmten Teilaspekt beziehen, sondern eher die Welt als Ganzes gemeint ist, dann müssen diese Aussagen
notwendigerweise teilweise spekulativ sein, weil die Menschheit bisher nicht imstande war, alle Aspekte
der Realität zu erfassen (das dürfte für die absehbare Zukunft auch so bleiben).
Die bestehenden Lücken werden durch eine Überzeugung oder einen festen Glauben überbrückt,
wobei die individuell unterschiedlichen Betrachtungs-Perspektiven der Gegebenheiten,
die unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, und die unterschiedlichen Bewertungen von Wahrnehmungen,
zu individuell stark unterschiedlichen Weltbildern führen können.
Die so konstruierten Weltbilder können sich zu einem in sich widerspruchsfreien Glaubenssystem verfestigen,
zu einer "Wahrheit", der aber notwendigerweise eine starke Subjektivität anhaftet.
Die Subjektivität kann zwar durch Kommunikation über die Weltbilder eingedämmt, und eine intersubjektive
Wahrheit gebildet werden, die grundsätzlichen Beschränkungen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bleiben
jedoch bestehen.
Die individuelle "für wahr Nehmung" führt in extremen Ausprägungen bei weltanschaulichen Aussagen
zu einem ideologisch, religiös, oder metaphysisch begründeten Absolutheitsanspruch für das jeweils
konstruierte Weltbild.
Eine weniger extrem ausgeprägte Erscheinungsform dieses Wahrheitsbegriffes ist der Anspruch auf Korrektheit
der Darstellung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhanges oder Wirkungsmechanismus.
Ein seriöser Naturwissenschafter wird für seine Aussagen über die Welt nicht den Anspruch erheben,
eine unverrückbare Wahrheit anzubieten, sondern jede Theorie als ein jeweils gerade akzeptiertes
Erklärungsmodell betrachten, das nur gerade solange akzeptiert wird, bis es entweder durch neu
entdeckte Phänomene falsifiziert, oder durch ein besseres Erklärungsmodell ersetzt wird.
Weil aber viele der aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien zumeist zutreffende Vorhersagen
von Entwicklungen ermöglichen, gerät diese grundsätzliche Beschränkung der Gültigkeit von Theorien
sehr leicht in Vergessenheit.
Das verleitet zur Verwechslung von jeweils-akzeptierter Theorie mit einer unabänderlichen Wahrheit.
Eine solche Verwechslung kann nicht nur bei Laien beobachtet werden, sondern ist mitunter auch
bei (engstirnigen/eingebildeten/überheblichen) Naturwissenschaftern anzutreffen.
Summa summarum wäre wünschenswert, dass beim Philosophieren über die Wahrheit auch auf Klarheit
über das jeweils in Rede stehende Begriffsverständnis geachtet wird.
Das erscheint immer dann besonders wichtig, wenn die Rede von "subjektiver Wahrheit" mit im Spiel ist,
die in einem falschen Kontext ja keinen Sinn ergibt.
Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.