AW: Von Relativismus bis Konstruktivismus
Konstruktivismus ist nicht gleich Konstruktivismus, manche sind es mehr, andere weniger
Im Alltag ist ein jeder, das wurde bereits erwähnt, ein (erkenntnistheoretisch gesehen) "naiver Realist", ein Common-Sense-Realist könnte man auch sagen, das klingt irgendwie freundlicher.
Aber bereits im Alltag kann sich ein erkenntnistheoretischer „Teil-Konstruktivismus“ bilden: Wenn man bedenkt, dass „identische" Gegenstände dauernd unterschiedlich erscheinen, kommt man vielleicht (vielleicht nicht zwingend) auf den Idee, dass es Farben, um zuerst nur ein Beispiel zu nennen, "da draußen" gar nicht gibt. Wir sind es, die sie produzieren (bzw. konstruieren). Philosophiegeschichtlich hat sich das in der Trennung von primären und sekundären Qualitäten niedergeschlagen. Die sekundären sind die, die wir 'konstruieren', sie gehören nicht zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind. Sekundär sind die Gerüche, die Geräusche, das Aussehen, ... Primär sind dagegen die Lage in Raum und Zeit (Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, ...)
Bis dahin machen die meisten Realisten noch mit, obwohl die Konsequenzen schon ziemlich verrückt sind
Stehen wir vor einem blauen Yves Klein Bild, dann verschwindet in dieser realistisch/konstruktivistischen Beschreibung auf der ontologischen Seite genau das, was diese Bilder ausmacht: Das Blaue. Die Bilder an sich sind nicht blau. Aber „im“ „Konstrukteur“ der Farben, dem Gehirn finden wir, egal wie genau wir es betrachten, auch kein Blau. Auf dieser Beschreibungsebene (die für manche die maßgebliche ist) findet sich einfach kein Blau. Aber das ist ein anderes Thema
Zurück zu selbigem: Bis dahin machen also die meisten Realisten noch mit.
Aber jetzt kommt ganz dicke. Jetzt kommt Kant. Und da bleibt kein Auge mehr trocken und kein Platz für primäre Qualitäten. Auch sie 'gehören' ab Kant zum Subjekt. Raum und Zeit sind etwas, was nach Kant, vom Subjekt mitgebracht wird.
Es kommt noch „schlimmer“
Auch wichtige Kategorien (etwa Kausalität) muss man nun dem transzendentalen Subjekt zurechnen und nicht etwa der Welt da draußen. Kant lehrt uns, dass wir nur das erkennen können, was den ‚subjektiven’ Erkenntnisbedingungen, welche das Subjekt mitbringt, entspricht. „Erfahrung wird nicht (empirisch) gegeben, sondern Gemacht ...“ (Kant)
Achtung Falle: ‚subjektiv’ wir hier nicht verwendet, wie wir es heute im Alltag gebrauchen. Also etwas, was ‚irgendwie’ ins Belieben eines Einzelnen gestellt ist. Das transzendentale Subjekt ist ein „allgemeines Subjekt“ und daher gerade nicht beliebig. Es gilt für alle. Es geht ja, wie man weiß, um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Kants Transzendentalsubjekt und seine Aprioris sind a-historisch. Das ist immerhin ein „gute Nachricht“ (für Universalisten zum Beispiel), denn so kann es, wenn das ontologische Paradies schon verloren ist, dennoch ein gutes Maß an Verbindlichkeit geben.
Allerdings regt sich da schnell Widerstand. A-historisch? Pah!
Damit gebe ich für ein paar Zeilen ab an einen gut informierten Korrespondenten aus dem philosophischen Milieu, den Philosophen Jochen Hörisch:
[...] Kritische Gegeneinwände liegen auf der Hand und sind auch vielfach vorgetragen worden. Aus anthropologischer, psychologischer, soziologischer, historischer, interaktionstheoretischer, kulturvergleichender oder kommunikationstheoretischer Perspektive liegen Fragen und Hinweise wie diese nahe: nur eine sehr genau beschreibbare Minderheit von Köpfen, nämlich bevorzugt Mitteleuropäer um 1800, entwickeln eine selbstbewusstseinstheoretische Selbstbeschreibung. In Kulturen wie der japanischen (und vielen anderen mehr) wäre eine solche Ego-zentrierte Selbstbeschreibung kaum denkbar. Die Transzendentalphilosophie mag noch so universalistisch auftreten und die ganze Menschheit umarmen - sie ist ein kulturspezifischer Sonderweg. Und selbst innerhalb dieser Kultur sind Fragen wie die, ob Schlafende, Schizophrene oder Kleinkinder selbstbewusstseinstheoretisch angemessen erfasst werden können, schwer von der Hand zu weisen zu. Überzeugend ist auch der Einwand, dass Inter-Subjektivität logisch und chronologisch früher ist als selbstbewusste Subjektivität, dass Selbstbewusstsein nicht ohne Kommunikation zu fassen ist oder dass nach Rimbauds berühmtem Wort »das Ich ein Anderer« ist. Entwicklungspsychologen wie Jean Piaget, Soziologen, Biologen, Neurophysiologen und auch Psychoanalytiker, die auf Lacans Exzentrizitäten verzichten, weisen gemeinsam darauf hin, dass die Fähigkeit, »ich« zu sagen, nicht schon mit der Geburt gegeben, sondern vielmehr fremdinduziert ist.
Gegen Einwände dieser Art immunisiert sich die Selbstbewusstseinstheorie, indem sie eine weitreichende Begriffsunterscheidung trifft: die zwischen empirischen und transzendentalen Subjekten. Thema der Selbstbewusstseinstheorie sind nicht empirische, also etwa dürre, melancholische, schwitzende, verliebte, suizidal gefährdete, heimwehkranke oder delirante Subjekte, sondern ausschließlich Transzendentalsubjekte, also Subjekte, die im Hinblick auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnissen analysiert werden. [Wie oben beschrieben.] Ob die Unterscheidung empirisch/transzendental eine empirische oder transzendentale Unterscheidung ist - das sind Fragestellungen, die die Selbstbewusstseinstheorie alsbald (z.B. in Gestalt der Hegelschen Denkfiguren) über sich selbst hinaus getrieben haben. Anspruchsvolle Theorien, die Subjektivitätsprobleme hinter sich lassen, machen jedoch eigentümliche Erfahrung: Sie werden (vgl. z.B. Systemtheorie) die Rekursivitätsprobleme nicht los, die der Selbstbewusstseinstheorie so etwas wie eine negative Erhabenheit verleihen.
Damit zurück ins Studio.
Mit Kant haben wir aber schon einen ‚ziemlichen’ Konstruktivismus erreicht, den bestimmt nicht mehr Alle (Realisten zumal) mit zu machen bereit sind. Dennoch, so hört man oft, kann es keinen Weg geben, der hinter Kant zurückfällt. Was nicht heißt, dass man Kant einfach ‚übernimmt’, sondern dass es sich keine seriöse Theorie mehr leisten kann nicht mehr auf ihre eigenen Bedingungen zur reflektieren und die Welt einfach ‚naiv’ hinzunehmen.
Wie geht es nach Kant weiter? Fragwürdig erscheinen das „Subjekt“ (siehe Hörisch) und ebenso gewisse a-historischen Zutaten. Also streichen wir beides weg
Was bleibt da übrig? Je nach dem
Zum Beispiel, wenn man mag, dies: Anstelle des dezentrierten Subjekts treten bestimmte Sinn-Systeme etwa Gesellschaften. Oder allgemeiner: Kulturen. Nicht „ich“* konstruiere, sondern „wir“ konstruieren. Und das nicht a-historisch, sondern geschichtlich und kulturell je anders. Damit ist aber auch die Rede von den sechs Milliarden Einzelkonstruktionen ziemlich relativiert, was heißt, dass dieser extreme Relativismus relativiert wird
. Diese relativierte Relativismus führt - zum Glück - nicht zurück zu irgend einem „Absolutismus“, aber er bewahrt uns – ebenso zum Glück - vor einem Beliebigkeitismus. Das heißt: Wir sind immer schon da, wo wir sind
Wir, die Endlichen, schließen immer an etwas an, was wir nicht (wenigstens nicht vollständig) wegsprengen können, sondern ‚bloß’ weiterverarbeiten können.
Dass diese Basis, aus der wir uns nicht vollständig herausreflektieren können ohne uns selbst ganz und gar zu verlieren, nicht universell oder absolut gültig ist, sondern kontingent ist, also so wie sie ist auch anders (aber nicht beliebig) sein könnte ... puh langer Satz ... das könnte uns – mit etwas Glück - zu toleranten Menschen machen
Das wäre doch eine nette Perspektive.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Relativismus: nein; Kulturalismus: ja, gerne.
* Es gibt allerdings einflussreiche Hardcore-Varianten, die das Gehirn als Konstrukteur einsetzen. Das Gehirn selbst ist kein Konstrukt, sondern nur ein Konstrukteur. Es ist der Gegenstand der positivistischen Neurologie und selbst, wie es scheint, nicht konstruiert, sondern eine ‚reales Ding’. Auf die tausend Fragen und Probleme, die das aufwirft, will ich in diesem Text, der eh schon viel zu lang ist, nicht eingehen