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Von Relativismus bis Konstruktivismus

AW: Beliebigkeit will niemand...

Ich habe im Eingangsbeitrag ganz unterschiedliche Phänomene aufgezählt (hat den eigentlich jemand gelesen?).
Ich sprach von Relativismus
postmodernen Ideen
radikalen Konstruktivismus
Systemtheorie

Das sind Abstufungen oder Modelle mit doch sehr verschiedenen Implikationen.

..

Jetzt tue ich einmal, Robin, als ob ich " eleidigt" ( so sagte meine kleine Tocher immer, die war das schon, bevor sie reden konnte *ggrr* ), also als ob ich beleidigt wäre.

Denn Du weißt, dass ich im Rahmen der Wissenschaft, die mir irgendwie zugänglich ist, geantwortet habe. Auch Dio hat das - aus germanistischer Sicht und für mich ebenfalls nachvollziehbar.
Aber: weg mit dem Speck der "Anbeleidigungen".
Ganz toll finde ich den Denkanstoß von Dir: Beliebigkeit versus fixe Konstruktionen. Werde darüber nachdenken. Versprochen !
 
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AW: Beliebigkeit will niemand...

Denn Du weißt, dass ich im Rahmen der Wissenschaft, die mir irgendwie zugänglich ist, geantwortet habe. Auch Dio hat das - aus germanistischer Sicht und für mich ebenfalls nachvollziehbar.
Ja, so schlecht bin auch ich - sehe immer nur das Negative oder Ungenügende, zu selten das Positive.

Ansonsten hat wohl jede Zeit ihr Thema, und diese Zeiten haben wohl andere Themen - vielleicht ein Thema für einen Thread... :)
 
AW: Von Relativismus bis Konstruktivismus

Konstruktivismus ist nicht gleich Konstruktivismus, manche sind es mehr, andere weniger :-)

Im Alltag ist ein jeder, das wurde bereits erwähnt, ein (erkenntnistheoretisch gesehen) "naiver Realist", ein Common-Sense-Realist könnte man auch sagen, das klingt irgendwie freundlicher.

Aber bereits im Alltag kann sich ein erkenntnistheoretischer „Teil-Konstruktivismus“ bilden: Wenn man bedenkt, dass „identische" Gegenstände dauernd unterschiedlich erscheinen, kommt man vielleicht (vielleicht nicht zwingend) auf den Idee, dass es Farben, um zuerst nur ein Beispiel zu nennen, "da draußen" gar nicht gibt. Wir sind es, die sie produzieren (bzw. konstruieren). Philosophiegeschichtlich hat sich das in der Trennung von primären und sekundären Qualitäten niedergeschlagen. Die sekundären sind die, die wir 'konstruieren', sie gehören nicht zu den Dingen, wie sie an sich selbst sind. Sekundär sind die Gerüche, die Geräusche, das Aussehen, ... Primär sind dagegen die Lage in Raum und Zeit (Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, ...)

Bis dahin machen die meisten Realisten noch mit, obwohl die Konsequenzen schon ziemlich verrückt sind :-) Stehen wir vor einem blauen Yves Klein Bild, dann verschwindet in dieser realistisch/konstruktivistischen Beschreibung auf der ontologischen Seite genau das, was diese Bilder ausmacht: Das Blaue. Die Bilder an sich sind nicht blau. Aber „im“ „Konstrukteur“ der Farben, dem Gehirn finden wir, egal wie genau wir es betrachten, auch kein Blau. Auf dieser Beschreibungsebene (die für manche die maßgebliche ist) findet sich einfach kein Blau. Aber das ist ein anderes Thema :-) Zurück zu selbigem: Bis dahin machen also die meisten Realisten noch mit.

Aber jetzt kommt ganz dicke. Jetzt kommt Kant. Und da bleibt kein Auge mehr trocken und kein Platz für primäre Qualitäten. Auch sie 'gehören' ab Kant zum Subjekt. Raum und Zeit sind etwas, was nach Kant, vom Subjekt mitgebracht wird.

Es kommt noch „schlimmer“ :-) Auch wichtige Kategorien (etwa Kausalität) muss man nun dem transzendentalen Subjekt zurechnen und nicht etwa der Welt da draußen. Kant lehrt uns, dass wir nur das erkennen können, was den ‚subjektiven’ Erkenntnisbedingungen, welche das Subjekt mitbringt, entspricht. „Erfahrung wird nicht (empirisch) gegeben, sondern Gemacht ...“ (Kant)

Achtung Falle: ‚subjektiv’ wir hier nicht verwendet, wie wir es heute im Alltag gebrauchen. Also etwas, was ‚irgendwie’ ins Belieben eines Einzelnen gestellt ist. Das transzendentale Subjekt ist ein „allgemeines Subjekt“ und daher gerade nicht beliebig. Es gilt für alle. Es geht ja, wie man weiß, um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Kants Transzendentalsubjekt und seine Aprioris sind a-historisch. Das ist immerhin ein „gute Nachricht“ (für Universalisten zum Beispiel), denn so kann es, wenn das ontologische Paradies schon verloren ist, dennoch ein gutes Maß an Verbindlichkeit geben.

Allerdings regt sich da schnell Widerstand. A-historisch? Pah!

Damit gebe ich für ein paar Zeilen ab an einen gut informierten Korrespondenten aus dem philosophischen Milieu, den Philosophen Jochen Hörisch:

[...] Kritische Gegeneinwände liegen auf der Hand und sind auch vielfach vorgetragen worden. Aus anthropologischer, psychologischer, soziologischer, historischer, interaktionstheoretischer, kulturvergleichender oder kommunikationstheoretischer Perspektive liegen Fragen und Hinweise wie diese nahe: nur eine sehr genau beschreibbare Minderheit von Köpfen, nämlich bevorzugt Mitteleuropäer um 1800, entwickeln eine selbstbewusstseinstheoretische Selbstbeschreibung. In Kulturen wie der japanischen (und vielen anderen mehr) wäre eine solche Ego-zentrierte Selbstbeschreibung kaum denkbar. Die Transzendentalphilosophie mag noch so universalistisch auftreten und die ganze Menschheit umarmen - sie ist ein kulturspezifischer Sonderweg. Und selbst innerhalb dieser Kultur sind Fragen wie die, ob Schlafende, Schizophrene oder Kleinkinder selbstbewusstseinstheoretisch angemessen erfasst werden können, schwer von der Hand zu weisen zu. Überzeugend ist auch der Einwand, dass Inter-Subjektivität logisch und chronologisch früher ist als selbstbewusste Subjektivität, dass Selbstbewusstsein nicht ohne Kommunikation zu fassen ist oder dass nach Rimbauds berühmtem Wort »das Ich ein Anderer« ist. Entwicklungspsychologen wie Jean Piaget, Soziologen, Biologen, Neurophysiologen und auch Psychoanalytiker, die auf Lacans Exzentrizitäten verzichten, weisen gemeinsam darauf hin, dass die Fähigkeit, »ich« zu sagen, nicht schon mit der Geburt gegeben, sondern vielmehr fremdinduziert ist.

Gegen Einwände dieser Art immunisiert sich die Selbstbewusstseinstheorie, indem sie eine weitreichende Begriffsunterscheidung trifft: die zwischen empirischen und transzendentalen Subjekten. Thema der Selbstbewusstseinstheorie sind nicht empirische, also etwa dürre, melancholische, schwitzende, verliebte, suizidal gefährdete, heimwehkranke oder delirante Subjekte, sondern ausschließlich Transzendentalsubjekte, also Subjekte, die im Hinblick auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnissen analysiert werden. [Wie oben beschrieben.] Ob die Unterscheidung empirisch/transzendental eine empirische oder transzendentale Unterscheidung ist - das sind Fragestellungen, die die Selbstbewusstseinstheorie alsbald (z.B. in Gestalt der Hegelschen Denkfiguren) über sich selbst hinaus getrieben haben. Anspruchsvolle Theorien, die Subjektivitätsprobleme hinter sich lassen, machen jedoch eigentümliche Erfahrung: Sie werden (vgl. z.B. Systemtheorie) die Rekursivitätsprobleme nicht los, die der Selbstbewusstseinstheorie so etwas wie eine negative Erhabenheit verleihen.

Damit zurück ins Studio.

Mit Kant haben wir aber schon einen ‚ziemlichen’ Konstruktivismus erreicht, den bestimmt nicht mehr Alle (Realisten zumal) mit zu machen bereit sind. Dennoch, so hört man oft, kann es keinen Weg geben, der hinter Kant zurückfällt. Was nicht heißt, dass man Kant einfach ‚übernimmt’, sondern dass es sich keine seriöse Theorie mehr leisten kann nicht mehr auf ihre eigenen Bedingungen zur reflektieren und die Welt einfach ‚naiv’ hinzunehmen.

Wie geht es nach Kant weiter? Fragwürdig erscheinen das „Subjekt“ (siehe Hörisch) und ebenso gewisse a-historischen Zutaten. Also streichen wir beides weg :-) Was bleibt da übrig? Je nach dem :-)

Zum Beispiel, wenn man mag, dies: Anstelle des dezentrierten Subjekts treten bestimmte Sinn-Systeme etwa Gesellschaften. Oder allgemeiner: Kulturen. Nicht „ich“* konstruiere, sondern „wir“ konstruieren. Und das nicht a-historisch, sondern geschichtlich und kulturell je anders. Damit ist aber auch die Rede von den sechs Milliarden Einzelkonstruktionen ziemlich relativiert, was heißt, dass dieser extreme Relativismus relativiert wird :-). Diese relativierte Relativismus führt - zum Glück - nicht zurück zu irgend einem „Absolutismus“, aber er bewahrt uns – ebenso zum Glück - vor einem Beliebigkeitismus. Das heißt: Wir sind immer schon da, wo wir sind :-) Wir, die Endlichen, schließen immer an etwas an, was wir nicht (wenigstens nicht vollständig) wegsprengen können, sondern ‚bloß’ weiterverarbeiten können.

Dass diese Basis, aus der wir uns nicht vollständig herausreflektieren können ohne uns selbst ganz und gar zu verlieren, nicht universell oder absolut gültig ist, sondern kontingent ist, also so wie sie ist auch anders (aber nicht beliebig) sein könnte ... puh langer Satz ... das könnte uns – mit etwas Glück - zu toleranten Menschen machen :-) Das wäre doch eine nette Perspektive.

Lange Rede, kurzer Sinn:
Relativismus: nein; Kulturalismus: ja, gerne.

* Es gibt allerdings einflussreiche Hardcore-Varianten, die das Gehirn als Konstrukteur einsetzen. Das Gehirn selbst ist kein Konstrukt, sondern nur ein Konstrukteur. Es ist der Gegenstand der positivistischen Neurologie und selbst, wie es scheint, nicht konstruiert, sondern eine ‚reales Ding’. Auf die tausend Fragen und Probleme, die das aufwirft, will ich in diesem Text, der eh schon viel zu lang ist, nicht eingehen :-)
 
AW: Von Relativismus bis Konstruktivismus

Wie man in diversen Schriten vom Realismus zum Konstruktivismus kommt, hab ich eben vielzeilig beschrieben. Es geht aber auch anders. Und vor allem schneller. Das hab ich mal in den Untiefen des Netzes gefunden: Ein einfach und klar formulierter Beitrag zu erkenntnistheoretischen Zirkeln bei Luhmann von (dem mir unbekannten) 'Jörg'.

  • ... in einem Seminar hat Luhmann den Satz "es gibt Systeme" einmal so erklärt (jedenfalls hatte ich ihn damals so verstanden):

    Normalerweise beginnen Wissenschaftler, die sich auch mit Erkenntnistheorie beschäftigen damit, eine "erkenntnistheoretische Vorrede" vorzuschalten. Das heisst, bevor sie etwas über die Welt sagen, sagen sie zuerst etwas darüber, was sie überhaupt wissen, erkennen usw. können.

    In Bezug auf Systeme würde die Frage lauten: Gibt es überhaupt Systeme, welchen ontologischen Status haben sie, gibt es sie nur analytisch usw. usf. Wenn sie diese Frage irgendwie beantwortet haben, beginnen sie mit der Beobachtung der "Welt". Das Problem liegt hier nach Luhmann darin: woher weiss man, was man beobachten kann, bevor man damit anfängt?

    Luhmann kehrt nun einfach die Reihenfolge der Schritte um und beginnt mit der Beobachtung der Welt. Dort kann er Systeme beobachten und er formuliert daher (zunächst "erkenntnistheoretisch naiv"): "Es gibt Systeme". Ferner nimmt er wahr, dass diese Systeme selbst ihre Umwelt beobachten, indem sie Unterscheidungen benutzen, dass sie nur gewisse Dinge sehen und andere nicht sehen usw.
    In einem zweiten Schritt schliesst Luhmann dann: wenn es in der Umwelt Systeme gibt, die vermittels Unterscheidungen beobachten - dann ist er als Beobachter wahrscheinlich auch ein System, benutzt auch Unterscheidungen und kann auch nur das sehen, was er sehen kann.

    Das bedeutet - in einem dritten Schritt - dass auch das, was er über die Systeme im ersten Schritt durch Beobachtung erfahren hat, vom Gebrauch seiner eigenen Unterscheidungen, seiner eigenen Beobachtungsfähigkeit als System abhängt. Hier befindet man sich also in einer Art erkenntnistheoretischem Zirkel.

    Der Vorteil der zweiten Fassung liegt nach Luhmann darin, dass dieser erkenntnistheoretische Zirkel deutlich wird, welcher in der ersten Fassung nicht zu erkennen ist. Dort stellt sich der wissenschaftliche Beobachter fälschlicherweise als "extern" dar, so, als hätte er eine privilegiert Position "ausserhalb der Welt".

    Das Argument ist, wenn ich mich recht erinnere am schönsten in einem kleinen Büchlein von Luhmann mit dem Titel "Erkenntnis als Konstruktion" dargestellt (das ich gerade nicht da habe und daher nicht daraus zitiere).

    Dies alles ist stark aus dem Gedächtnis reproduziert und daher vielleicht nicht sehr exakt. (Jörg)
 
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Auf die tausend Fragen und Probleme, die das aufwirft, will ich in diesem Text, der eh schon viel zu lang ist, nicht eingehen :-)

Papperlapapp!
Wer einen guten Text in solcher Länge nicht verträgt, wird nie Zugang zu irgendeiner Theorie erlangen.
Hi Me, ich deklariere deinen Text einfach mal als Fortsetzung meines Beitrags zur emotionalen Qualität der Systemtheorie. (das waren noch Zeiten, als Scilla mich noch lobte ;) )


Stehen wir vor einem blauen Yves Klein Bild, dann verschwindet in dieser realistisch/konstruktivistischen Beschreibung auf der ontologischen Seite genau das, was diese Bilder ausmacht: Das Blaue. Die Bilder an sich sind nicht blau. Aber „im“ „Konstrukteur“ der Farben, dem Gehirn finden wir, egal wie genau wir es betrachten, auch kein Blau.
Kannst du dieses Phänomen auf eine Unterscheidung Gehirn/Bewusstsein anwenden?
Es gibt allerdings einflussreiche Hardcore-Varianten, die das Gehirn als Konstrukteur einsetzen. Das Gehirn selbst ist kein Konstrukt, sondern nur ein Konstrukteur. Es ist der Gegenstand der positivistischen Neurologie und selbst, wie es scheint, nicht konstruiert, sondern eine ‚reales Ding’
Selbes Problem: Wer konstuiert? Gehirn oder Bewusstsein?
Siehe dazu auch diesen Beitrag und folgende.

dass Selbstbewusstsein nicht ohne Kommunikation zu fassen ist oder dass nach Rimbauds berühmtem Wort »das Ich ein Anderer« ist. Entwicklungspsychologen wie Jean Piaget, Soziologen, Biologen, Neurophysiologen und auch Psychoanalytiker, die auf Lacans Exzentrizitäten verzichten, weisen gemeinsam darauf hin, dass die Fähigkeit, »ich« zu sagen, nicht schon mit der Geburt gegeben, sondern vielmehr fremdinduziert ist.
Womit wohl auch die Fähigkeit sozial zu sein durch das Erkennen des Selbst induziert wird. Vice versa sozusagen. Ich sage das im Hinblick auf diese Diskussion, die dich vielleicht interessiert, bei der wir uns am Ende etwas mühselig auf verschiedene Abstufungen von "sozial" geeinigt haben :)

Wir, die Endlichen, schließen immer an etwas an, was wir nicht (wenigstens nicht vollständig) wegsprengen können, sondern ‚bloß’ weiterverarbeiten können.
Dieser Satz schließt also Zirkularität ein und gleichzeitig Beliebigkeit aus. Wichtig ist hier der Faktor Zeit, der erst die Kondensation von Erkenntisstruktur ermöglicht, obwohl keine Objektivität gegeben ist. Das nochmals zu den EInwänden von Ziesemann.

das könnte uns – mit etwas Glück - zu toleranten Menschen machen :-) Das wäre doch eine nette Perspektive.
Da stimme ich wie immer zu. Befürchte aber, dass diese Perspektive einen immer begrenzteren Wirkungsbereich umfasst...

So. Bin gespannt, ob dieser sehr vernetzter Beitrag die Komplexität noch erhöht ;)
 
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