AW: Was ist die Natur des Menschen?
Das Fehlverhalten von Jugendlichen wird schon seit Jahrzehnten von Wissenschaftlern untersucht. Stress, Überforderung und Wertewandel hält Cube aber nicht für überzeugend. Während in diesen Studien immer nur Psychologen, Soziologen, Politologen und Pädagogen zu Wort kommen, argumentiert er mit den Erkenntnissen der Verhaltensbiologie, v. a. greift er oft auf K. Lorenz zurück. „Der Mensch ist doch keine Graugans!“, rief ein Abgeordneter bei einer Bundestagsdebatte über den Jugendprotest und erntete damit Applaus. Dieses Missverständnis versucht Cube zu widerlegen (er spricht von einem katastrophalen Fehler): Durch die Verhaltensbiologie erhalten wir nämlich nicht nur Erkenntnisse über tierisches Verhalten, sondern auch über menschliches Handeln.
Deshalb glaube ich nicht, dass ich von dem Thema zu sehr abschweife, Binchen, sondern dass es hier eben um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Tier und Mensch geht, also auch um die „Natur des Menschen“.
Dass es einen Aggressionstrieb gibt, lässt sich von der Evolution her auch erklären: Jederzeit kann ein Rivale auftauchen, der Nahrung, Revier, Rang, Partner streitig macht. Ein Überschuss an Triebenergien garantiert sogar eher noch das Überleben.
Durch die Triebe ist der Mensch genauso an seine Umwelt angepasst wie die anderen Primaten und wie die anderen Tiere. Seine Sonderstellung hat sich „durch zwei folgenschwere Mutationen ergeben, durch die Entwicklung des Ichbewusstseins und die später erfolgte Entwicklung der Reflexion“ (Cube).
Das Ichbewusstsein findet sich schon bei Tieren: Der Hund freut sich beim Gassi gehen oder beim Spielen, er ist traurig, wenn er sich verlassen fühlt und kann seine Empfindungen auch sehr gut zeigen. Oder wie Lorenz sagt: „Ein Mensch, der ichbewusst ist, der macht genau das Gleiche wie der Hahn am Mist. Er kräht, er imponiert, er will den Weibern imponieren, die Männer unterbuttern.“
Die Reflexion als zweite Stufe des Ichbewusstseins ist eben das Charakteristische beim Menschen. Dadurch sind wir gespalten in Körper und Geist, in Leib und Seele, oder wie auch immer man das bezeichnen will. Gesteuert wird sein Verhalten nun durch das Großhirn, das wesentlich größer ist als bei den Tieren, auch bei den Primaten. Der Mensch hat nicht nur Hunger, er weiß es auch, und er weiß auch, dass er immer Hunger haben wird. Die Reflexion ist die Ursache für die Gestaltung der Welt, für Besitz, Kultur, Religion, Technik und - für die Zerstörung der Natur.
Durch die Reflexion vermögen wir auch unsere Triebe zu kontrollieren. Das merkt man beispielsweise bei Träumen, etwa sexuell bestimmten Träumen, wo oft sogenannte Grenzen überschritten werden. Wer hat nicht schon oft seinen Hund beim Schlafen beobachtet, wenn er zuckt und dabei offenbar träumt? Mein Hund heult sogar im Schlaf gelegentlich wie ein Wolf. Im Traum wird anscheinend nicht die Reflexionssteuerung des Großhirns verwendet. Triebe hingegen schon: Ist es euch nicht auch schon mal so ergangen, dass ihr im Traum dringend mal ... Man hätte sogar schon das Klo, aber man traut sich nicht. Plötzlich wird man hellwach, merkt, dass man im Bett liegt und schnellstens, husch ...
Ein anderes Beispiel ist der Alkoholrausch, wenn die Reflexion des Großhirns reduziert wird, und wo man dann ungewöhnlich aggressiv oder sexuell lästig bis ausfällig werden kann.
Nach meinem Verständnis lassen sich hier außerdem auch Störungen wie das Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) oder eben das Tourette-Syndrom einordnen. So gesehen liegen diese weniger in der Natur des Menschen, sondern in verschieden gelagerten und verschieden schweren Störungen im Großhirn, meine ich.
Die aggressiven Handlungen beim Menschen lassen sich als eine Kombination von Trieb und Großhirnsteuerung erklären. Bei Kindern, die noch nicht so sehr das Reflexionspotenzial nützen können, brechen Aggressionen oft unkontrolliert aus. Man spricht dann oft von Ehrlichkeit, Unverfälschtheit beim Kind, was aber diesem Verständnis nach für mich nicht nachvollziehbar ist. Ich meine, solches sollte man eher wertfrei sehen.
Man kann lernen, mit der Aggression umzugehen, sie zu beherrschen. Man kann aggressionsauslösende Reize meiden, Ersatzobjekte suchen (kleine Beispiele am Rande: Humor, Bewegung, Ruhepause) usw.. Man kann also die kognitive Steuerung lernen, Orundellico, das stimmt, aber Aggression ist vorhanden wie Hunger und Sexualität.
Im Übrigen ist es schwieriger, eine aggressive Handlung zu beherrschen, wenn die Aggression durch plötzlich auftauchende Reize aktiviert wird. Man reagiert auf einen plötzlichen Reiz, ein böses Wort, ein Auslachen oder dgl. Es gibt aber trotzdem auch Alternativen zum Schmollen oder zur Unversöhnlichkeit etwa, die uns das Großhirn bietet, wenn vielleicht auch erst im Nachhinein: Aggression in Leistung umleiten! Leistung ist nach Cube eine positive Form der Aggression, was er ziemlich genau beschreibt und begründet.
Umgemünzt auf das Forum könnte das manchmal vielleicht auch heißen: Sich nicht in das unbekannte/unbequeme Wesen anderer Menschen verbeißen, sondern die Andersartigkeit respektieren (ist schon eine große Leistung) und selber etwas beitragen, wenn man Zeit und Lust dazu hätte (auch eine große Leistung, zumindest aber eine gute Kanalisierung): Es gibt bspw. fast täglich große Ereignisse und Reize, die man in den Medien liest und die man aufgreifen könnte. Ich habe mich schon öfters gefragt (auch schon viel früher), warum solches so selten hier aufgegriffen wird.
Ich bin wieder viel zu lang geworden, ich weiß, darum habe ich schon vorgewarnt...
lg
Andreas