AW: Unser Recht zu sterben...
Hallo Ben!
Dieses Thema berührt mich sehr. Ich gebe dir nämlich zuallererst Recht, weil ich wie du der Meinung bin, dass jeder sein Leben beenden kann, so wie er es möchte.
Und doch kann ich der Zwangsbehandlung nicht ganz den Nutzen absprechen.
Obwohl, Zwangseinweisung ist es ja eigentlich im rechtlichen Sinn nicht.
Denn es braucht Angehörige, die für den "Patienten" entscheiden, weil er selbst nicht dazu in der Lage ist. Es ist ein wenig so hinkonstruiert, dass es nicht als Zwang dasteht, so in Richtung unterlassene Hilfeleistung, was ja als Zwang auf die Helfer angewendet wird. Ich habs damals jedenfalls so empfunden.
Dazu muss ich anmerken, dass ich in den letzten Jahren durch zwei unterschiedliche Geschichten (mein Sohn lebt noch, mein Bruder hat sich ertränkt) direkt mit dem Thema Selbstmord konfrontiert war.
Es gibt meiner Erfahrung nach Lebenssituationen , wo durch schwierige Umstände die Bewältigung des Lebens unmöglich erscheint. Man fühlt sich alleingelassen und hilflos und das hat auch viel damit zu tun, wie man sich selbst wahrnimmt. In einer solchen Situation kann auch eine Depression entstehen, und man wird lebensmüdige. Da weiß einer gar nicht mehr, dass es außerhalb seines schwarzen Lochs noch etwas gibt, für das es sich lohnt zu leben. Solche Menschen machen Selbstmordversuche, weil sie damit um Hilfe schreien. Aber sie wollen auch nicht in eine Klinik. Mein Sohn betrachtete mich als Verräterin, weil ich ihn nur mit dem Versprechen, in nicht gegen seinen Willen dort zu lassen, zu einer ambulanten Behandlung bringen durfte. Nach drei Wochen war er froh, dass ich nicht auf ihn gehört hatte.
Das sind Krisen, die als "Auszeit" genützt werden, um außerhalb der "normalen" Lebensnotwendigkeiten seine Basis wieder zu finden. Wenn die Schwierigkeiten in einem Leben zu viel werden (Job, Geld, Wohnung, Beziehung, Gesundheit...), dann geht der Sinn manchmal auch verloren. Und dann bist du in der Klinik im "Leo", wie man so schön sagt.
Die zweite Sache ist, dass es sowieso vom Betroffenen abhängt, wie weit er es zulassen will oder kann, einen Lebenssinn überhaupt wieder sehen zu wollen. Das klingt jetzt sehr geschwollen, aber ich glaube wirklich, dass das der Knackpunkt ist. Mein Bruder hatte mit seinem Leben schon abgeschlossen, als wir (meine Geschwister und ich) ihn noch zu einer Behandlung in die Klinik brachten. Er war sehr froh, dass er dort behandelt wurde, er redete sich die Kränkungen seines Lebens und die Schmerzen seines vermeintlichen Versagens vom Herzen und lebte nach seiner Entlassung noch 2 Jahre. Wir nahmen an, er habe es so weit geschafft, dass er wenigstens weiterleben wollte. Aber er nutzte die letzten Jahre seines Lebens, um noch das abzuschließen, was er angefangen hatte (er komponierte sehr viel). Das konnten wir allerdings erst rückblickend rekonstruieren, denn er verschloss seine ABsicht, sich das Leben zu nehmen, und redete mit niemandem mehr darüber.
Wenn also jemand wirklich die Absicht hat, sich umzubringen, dann wird ihn auch ein eventueller Klinikaufenthalt nicht daran hindern. Wenn es aber eine seelische Krankheit ist, die das Leben vorübergehend nicht mehr lebenswert erscheinen lässt, dann kann eine Behandlung schon helfen, seinen Lebenssinn (wieder)zufinden.
Im Fall meines Sohnes war es so, dass er innerhalb von zwei Wochen selbst entscheiden musste, ob er die Behandlung, die der Arzt vorgeschlagen hatte, akzeptieren wollte oder nicht. Wenn nicht, dann wäre er wieder entlassen worden, weil die Klinik dann nichts für ihn tun hätte können. Also Zwangsmaßnahmen, um ihn am Leben zu erhalten, hätte es da nicht gegeben. So lang er drin war, musste er sich verpflichten, die Maßnahmen der Klinik auch zu akzeptieren, aber er konnte jederzeit auf eigenen Wunsch die Klinik verlassen. Aber das tat er nicht, weil er anscheinend doch selbst spürte, dass er Hilfe brauchte.
Ich bin auch der Meinung, dass die Entscheidung eines Menschen, lieber zu sterben als weiterzuleben, auf jeden Fall zu respektieren ist. Wer kann beurteilen, welcher Weg für einen anderen der richtige ist, außer derjenige selbst. Ich habe die Entscheidung meines Bruders verstanden, aus seiner Situation heraus hat er das getan, was für ihn das richtige war.
Für die Angehörigen ist es schmerzlich zu sehen, dass ein Mensch, den man liebt, nicht imstande ist, sein Leben zu leben. Ich hätte es gern gesehen, dass mein Sohn fröhlich und stark in sein Leben hinausgeht. Umso froher bin ich heute, wenn ich ihn manchmal wenigstens fröhlich und optimistisch erleben darf, auch wenn er zwischendurch manchmal seine schwarzen Tage hat.
Was meinen Bruder betrifft, da ist es schon traurig für mich, dass alles, was ich und meine Geschwister tun konnten, nicht genug war um ihn vielleicht noch ein Stück mitzutragen, bis er wieder stark genug sein hätte können. Mehr als es ihm anzubieten geht nicht. Er wollte nicht mehr, das ist zu respektieren.
Rhona formulierte es so, wie ich es auch sehe:
Ich bin der Meinung, dass der, der wirklich sterben will, Mittel und Wege findet, damit sein Plan aufgeht. Von denen, die wegen versuchtem Selbstmord in der Psychiatrie landen, wollen, so glaube ich zumindest, nur die Wenigsten wirklich sterben. Vielen reicht es schon, dass die Signale, die sie durch ihre Handlung aussandten, empfangen wurden.
Ben, dein Satz
Ob wir leben wollen oder nicht, das soll meiner Meinung nach jeder für sich entscheiden dürfen.
müsste aus meiner Sicht ergänzt werden. Denn ob wir leben wollen oder nicht hängt ja damit zusammen,
wie es uns erlaubt ist zu leben. Meines Erachtens stellt sich die Frage OB erst, wenn das WIE nicht mehr erträglich ist.
lilith