G
Gaius
Guest
Nachdem auch das einmal gesagt werden mußte, will ich meine kleinen grauen Zellen mal wieder ein bißchen besser anstrengen und doch nochmal etwas zwecks höherem Erkenntnisgewinn zur Fachsimpelei beitragen...
Robin, ich kann Dir in vielen Punkten beipflichten. Zuviel Mozart schafft schnell Überdruß. Es ist auch nicht einzusehen, warum so viel bohey um ausgerechnet diesen Komponisten gemacht wird. Obwohl zu bezweifeln ist, ob all die Stamitz, Cannabich und Wagenseil es kompositorisch so weit gebracht hätten wie er, wenn sie seit frühester Kindheit durch halb Europa geschleift worden wären und dadurch breiteste Kenntnis aller Stile ihrer Zeit gewonnen hätten, kann man doch nicht behaupten, daß Mozart in irgendeiner Hinsicht "besser", "tiefer" oder "genialer" gewesen wäre als andere Großmogule der Musikgeschichte auch. Allenfalls scheint Mozart als Person aufgrund der hohen Zahl an Briefen, die er hinterlassen hat, vertrauter als andere und auch dadurch anfälliger für Mythologisierungen.
Mendelssohn, Chopin, Ravel, Fauré - um mal meine Favoriten zu nennen. Zu Beethoven hege ich eher eine intellektuelle Liebe (falls es so etwas gibt), und mit Brahms bin ich seit meiner Kindheit so gründlich traktiert worden, daß auch da sich bei mir ein gewisser Überdruß eingestellt hat. An besonders schlechtgelaunten Tagen versteige ich mich gar zu der These, daß nach Guillaume de Machaut ohnehin nichts mehr komponiert wurde, was man guten Gewissens an seine Ohren lassen kann...
Ein Dilemma sehe ich nur in den sinkenden Aufführungszahlen. Das Publikum hat dadurch gar keine Chance, sich ein Urteil zu bilden und muß eben fressen, was Redakteure und Programmdirektoren ihnen zufällig gerade mal vorsetzen. Eine "innere Konsequenz" der Musikentwicklung gibt es nicht - das ist lediglich 1) ein Konstrukt des bürgerlichen Historismus, der allen Ernstes einen "Fortschritt" von Bach zu Beethoven zu Brahms, weiter zu Schönberg und dann zu Lachenmann, der sich in diese Position selbst anmaßend hineinsetzte und 2) eine Behauptung von zunächst exact zwei Komponisten des Darmstädter Kreises - Boulez und Stockhausen - die die Führerschaft in dieser "inneren Konsequenz" wie selbstverständlich für sich reklamierten und damit wesentlich interessantere Komponisten wie Stefan Wolpe oder Bernd Alois Zimmermann aus der Diskussion heraushalten wollten. Späterhin hat ein gewisser Ligeti noch das seinige dazu beigetragen. Alles ein riesiger, menschlich sehr fragwürdig abgelaufener Konkurrenzkrampf, dem wir nicht das Wort reden sollten. Heute ist musikalischer Pluralismus angezeigt! Der Blick nach Frankreich lehrt es uns: da standen neben der "Avangarde" des von Boulez geleiteten Ircam immer auch konservativere Komponisten wie Henri Dutilleux oder Jean Françaix. Und mir ist eine perfekte Arbeit eines „Reaktionärs“ hundertmal lieber als etwas vorgeblich Innovatives, bei dem die Mängel der handwerklichen Ausarbeitung einem förmlich ins Gesicht springen.
Zum Schluß: wie würde Mozart sich heute positionieren?
Im Ernst, ich kann nur vermuten. Vielleicht wäre er eine Art Mischung aus Wolfgang Rihm und Prince Rogers Nelson, vielleicht wäre er auch Hollywood-Filmkomponist, der nebenher als Dirigent und Klaviervirtuose aller Stile durch die Welt tingelt. Schwer zu sagen.
Grüße, Gaius
Robin, ich kann Dir in vielen Punkten beipflichten. Zuviel Mozart schafft schnell Überdruß. Es ist auch nicht einzusehen, warum so viel bohey um ausgerechnet diesen Komponisten gemacht wird. Obwohl zu bezweifeln ist, ob all die Stamitz, Cannabich und Wagenseil es kompositorisch so weit gebracht hätten wie er, wenn sie seit frühester Kindheit durch halb Europa geschleift worden wären und dadurch breiteste Kenntnis aller Stile ihrer Zeit gewonnen hätten, kann man doch nicht behaupten, daß Mozart in irgendeiner Hinsicht "besser", "tiefer" oder "genialer" gewesen wäre als andere Großmogule der Musikgeschichte auch. Allenfalls scheint Mozart als Person aufgrund der hohen Zahl an Briefen, die er hinterlassen hat, vertrauter als andere und auch dadurch anfälliger für Mythologisierungen.
Mendelssohn, Chopin, Ravel, Fauré - um mal meine Favoriten zu nennen. Zu Beethoven hege ich eher eine intellektuelle Liebe (falls es so etwas gibt), und mit Brahms bin ich seit meiner Kindheit so gründlich traktiert worden, daß auch da sich bei mir ein gewisser Überdruß eingestellt hat. An besonders schlechtgelaunten Tagen versteige ich mich gar zu der These, daß nach Guillaume de Machaut ohnehin nichts mehr komponiert wurde, was man guten Gewissens an seine Ohren lassen kann...
Frage: wieviele Komponenten müssen zusammentreten, damit musikalischer Sinn entsteht? Sinngemäß sagte Delacroix: "Eine Linie allein ergibt noch keinen Sinn, es muß eine zweite hinzutreten, damit eine Aussage entsteht." Oder waren es zwei, und es bedarf einer dritten? Musik ist wahrscheinlich komplexer organisiert als Malerei oder Zeichnung; was ist die kleinste sinnvolle und ganz und gar spezifische Einheit? Noch nicht einmal ein einzelnes Motiv kann, für sich genommen, bereits etwas sagen, und doch muß das Motiv charakteristisch genug formuliert sein, um zum Zusammenhalt der Form beitragen zu können. Mozarts Repertoire an Figuren und Formen war vergleichsweise begrenzt. Oft wird ja gerade diese Beschränkung als Zeichen besonderer Meisterschaft gesehen. Dann wiederum wird bei Mozart doch sehr häufig nur die Schablone ausgefüllt; in den Sonatenhauptsätzen kommt es mir eigentlich immer so vor, als wenn mit der Exposition alles gesagt sei; nur fehlte dem Meister hier der Mut, konsequenterweise gegen die Konvention seiner Zeit ganz neue Formkategorien zu schaffen, wie beispielsweise Chopin es getan hat. Auch sind die Haupt- und Seitenthemen von der Zeitgestalt her meist mehrdeutig. Ein Hauptthema könnte genausogut als Seitenthema fungieren. Es ist eher, als wenn Mozarts Melodien frei in der Zeit trieben, anstatt diese schlüssig zu artikulieren. Man kann das als besondere Qualität betrachten, man kann darin aber auch einen kompositorischen Mangel sehen wollen.Robin schrieb:-jede Note ergibt einen Sinn
Nein, da würde man Musik falsch verstehen. Bei Mozart und allen anderen könnte man massenweise Noten austauschen und nur Experten würden es merken. Der Sinn ergibt sich erst in der ganzen Form oder kleineren Teilen davon, nicht aber in den kleinsten.
Du meinst die kontrapunktischen Cadenzen. Die waren allerdings eine Wissenschaft für sich; und gerade Bach wendet sie in der Regel nicht in ihrer floskelhaften Grundform an, sondern modifiziert und verfremdet sie zwecks einer sehr differenzierten Abstufung der Geltung verschiedener Schlüsse. Häufig in den Fugen cadenzieren auch nur zwei Stimmen, während die anderen beiden einen anderen Zusammenhang weiterspinnen. Mozart ist im Vergleich dazu in seinen Schlüssen geradezu primitiv gewesen.Die Benutzung von Floskeln (am Schluss zum Beispiel) war immer nötig und selbst Bach-Liebhaber verdrehen manchmal die Augen ob seiner Sequenzen.
Gefühllos? Im Gegenteil! 99,9% wenigstens der deutschen Produktion etwa der letzten 30 Jahre trieft und klebt vor larmoyantestem Subjektivismus. Ein appollinischer Kunstbegriff des Musikwerks als in sich geschlossenem, eigenem Formgesetz genügendem Objet d'Art hat sich eher im britischen und amerikanischem Raum erhalten, vielleicht auch noch in Frankreich und Italien - obwohl da natürlich auch viel geistig halb verdautes fabriziert wird.-der zeitgenössischen Musik fehlt es an Gefühl
Hm. Kann nicht bestreiten, dass viele zeitgenössiche Musik einfach Schrott ist. Aber gefühllos? Das ist zu schnell geurteilt. "Die" zeitgenössische Musik befindet sich in einem künstlerisch-kommunikativen Dilemma. Teilweise selbstverschuldet, teilweise einfach Folge einer "inneren Konsequenz" der Musikentwicklung.
Ein Dilemma sehe ich nur in den sinkenden Aufführungszahlen. Das Publikum hat dadurch gar keine Chance, sich ein Urteil zu bilden und muß eben fressen, was Redakteure und Programmdirektoren ihnen zufällig gerade mal vorsetzen. Eine "innere Konsequenz" der Musikentwicklung gibt es nicht - das ist lediglich 1) ein Konstrukt des bürgerlichen Historismus, der allen Ernstes einen "Fortschritt" von Bach zu Beethoven zu Brahms, weiter zu Schönberg und dann zu Lachenmann, der sich in diese Position selbst anmaßend hineinsetzte und 2) eine Behauptung von zunächst exact zwei Komponisten des Darmstädter Kreises - Boulez und Stockhausen - die die Führerschaft in dieser "inneren Konsequenz" wie selbstverständlich für sich reklamierten und damit wesentlich interessantere Komponisten wie Stefan Wolpe oder Bernd Alois Zimmermann aus der Diskussion heraushalten wollten. Späterhin hat ein gewisser Ligeti noch das seinige dazu beigetragen. Alles ein riesiger, menschlich sehr fragwürdig abgelaufener Konkurrenzkrampf, dem wir nicht das Wort reden sollten. Heute ist musikalischer Pluralismus angezeigt! Der Blick nach Frankreich lehrt es uns: da standen neben der "Avangarde" des von Boulez geleiteten Ircam immer auch konservativere Komponisten wie Henri Dutilleux oder Jean Françaix. Und mir ist eine perfekte Arbeit eines „Reaktionärs“ hundertmal lieber als etwas vorgeblich Innovatives, bei dem die Mängel der handwerklichen Ausarbeitung einem förmlich ins Gesicht springen.
Zum Schluß: wie würde Mozart sich heute positionieren?
Im Ernst, ich kann nur vermuten. Vielleicht wäre er eine Art Mischung aus Wolfgang Rihm und Prince Rogers Nelson, vielleicht wäre er auch Hollywood-Filmkomponist, der nebenher als Dirigent und Klaviervirtuose aller Stile durch die Welt tingelt. Schwer zu sagen.
Grüße, Gaius