@fusselhirn (sorry, meine Antwort ist schon wieder so fürchterlich ausführlich geraten -
alle anderen bitte gaaaanz schnell weiterblättern!
)
Lilith hat den Unterschied von Masse / Menge in #30 meiner Meinung nach sehr gut erklärt:
Eine Menschenmenge (Ansammlung von Individuen) kann durch bewusste Manipulation und Propaganda so aufgeputscht werden, dass daraus eine sog. Masse wird, wie es auch bei Fans in einer "Massen"-Veranstaltung oft beobachtet wird. Die Masse reagiert auf Impulse von außen wie ein Organismus, die einzelnen Personen lösen sich quasi im Massengefühl auf. Teilnehmer von solchen Veranstaltungen sagen oft, dass sie gerade deswegen dabeisein wollen, weil sie dieses Gefühl so toll finden.
Eine große Menschenmenge ist aber noch lange keine Masse. Und auch nicht bei allen größeren Veranstaltungen bilden sich Massen. Masse entsteht durch Manipulation und ist durch Manipulation auch lenk- und verführbar. Ob gerade der "Führer" oder ein anderer "Verführer" am Werk ist, ist nur für die unterschiedlichen Ziele, die damit angestrebt wurden bzw. werden, erheblich.
Mehr meine ich eigentlich auch nicht; mit der Betonung, daß die bei Sport- oder Musikveranstaltungen möglicherweise entstehenden Massen sich sehr schnell wieder auflösen, und die Individualität der Einzelnen nur sehr eingeschränkt aufgehoben wird - und es steht jedermann zu jederzeit frei, die Menge wieder zu verlassen. Schon darum würde ich bei diesen Veranstaltungen gar nicht von "Massen" sprechen wollen. Politische Massenbewegungen dagegen bestehen notwendig dauerhaft und zwingen den Einzelnen bei Strafandrohung, sich ganz und gar in der Masse deren Gesetzen zu ergeben - sich selbst zugunsten des Erhalts der Masse aufzugeben. Und was die Masse will, wird dann meist auch nicht mehr von der Masse selbst bestimmt, sondern von deren Führern.
Wenn es in der Naziideologie zum Beispiel hieß: "Gemeinnutz vor Eigennutz", darf das nicht mit dem an sich löblichen Gedanken des Gemeinwohls verwechselt werden. Denn was da gemeinnützig war, bestimmte nicht mehr die Gemeinschaft in ständigen Verhandlungen selber, sondern die Wächter der Masse. Es ging dem Nazismus ja gar nicht wirklich um das soziale Gemeinwohl. Es ging um die Selbst-Verwirklichung einer einzigen Person - der des Führers - mithilfe einer einheitlich gleichgeschalteten Masse.
Klar gibt es unterschiede zu früher: die Leute sind disziplinloser geworden, haben Angst vor Gleichheit und so weiter, aber in diesen Gruppen gibt/gab es genauso viel "denkende" Menschen wie "hirnlose".
Disziplinlosigkeit ist nur dann ein Problem, wenn man selbst gesetzte Ziele nicht mehr erreicht. Wenn man sich aber gar keine Ziele setzt? Was dann?
Gleichheit in Deutschland ist im GG Artikel 3 folgendermaßen beschrieben:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
wobei mir Absatz (1) besonders bedeutsam erscheint: Keine Art von Klassenjustiz ist zu dulden!
Das war's dann aber auch schon: Dieser Artikel meint eine Minimalvoraussetzung an Gleichheit, auf dessen Grundlage dann alle
nach Herzenslust verschieden sein können. Angst vor Gleichheit übersetze ich mir eher mal mit Angst vor pauschaler Gleichmacherei. Die Menschen sind nun einmal ganz offensichtlich nicht tatsächlich "gleich".
Davor wiederum scheinen auch manche Angst zu haben.
Darf ich das Wort Führer eigentlich auch nicht benutzen, weil in Deutschland einmal einen "Führer" gab?
Klar darfst Du, dürfen wir alle jedes Wort nach Herzenslust benutzen und für uns anders definieren, das sorgt dann immer für neuen Diskussionsstoff! Aber wo wir schon einmal bei der Identifikation von "Masse" und "Führer" sind: Ein Reisegruppenleiter ist in
dem Sinne doch kein Führer, sowenig wie die Reisegruppe bereits eine Masse. Ich frage nur, ohne Begriffe werten zu wollen, ob wir im alltäglichen Sprachgebrauch immer die richtigen Wörter anwenden für die Erscheinungen, die wir beschreiben wollen. Und bei allgemeinem Fehlgebrauch besteht immer die Gefahr der politischen Manipulation. Wenn z.B. im SPIEGEL immer wieder mal unkritisch von "Massenansammlungen" in D die Rede ist, frage ich mich schon, ab wo die Hetze beginnt. Da können 500.000 Leute in Berlin gemeinsam gegen irgendwas demonstrieren - ohne deswegen gleich eine Masse zu bilden. Aber der falsche Sprachgebrauch denunziert hier eine Menge von Menschen, die einen gemeinsamen Standpunkt vertreten, und den Standpunkt gleich mit.
Wie soll ich einen Juden nennen, "Jude" war ja mal ein Schimpfwort lt. kathi?
Ein Jude ist nach jüdischem Gesetz, der Halacha, jemand, der eine jüdische Mutter hat - soweit ich weiß, sogar unabhängig davon, ob er auch jüdischen Glaubens ist. Es ist also mehr eine Frage der Abstammung als eine des religiösen Bekenntnisses. Deswegen ist der Antisemitismus ja auch ein Rassismus und kein Glaubenskriegertum. Aber wer nach dieser Definition ein Jude ist, den darf man natürlich einen Juden auch nennen, er ist es ja schließlich.
Andere Definitionen scheinen mir die Gefahr der Willkür zu bergen.
Übrigens, Fusselhirn: In jüdischen Publikationen fallen mir häufig Formulierungen auf wie "Unsere Gemeinde braucht einen religiösen Führer". Nicht daß ich nicht schlucken müßte, wenn ich einen solchen Satz lese
!
Grüße, Gaius