Erkenntnishorizonte von Gottgläubigen und Atheisten.
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Ich möchte diese Diskussion jedoch als Gelegenheit benutzen,
mein Verständnis vom Unterschied zwischen den Erkenntnishorizonten
von Gottgläubigen und Atheisten darzulegen.
Meiner Meinung nach ist dieser Unterschied nur marginal, zumindest,
wenn Atheismus mit einer gut reflektierten Gottgläubigkeit verglichen wird.
Was meine ich mit gut reflektierter Gottgläubigkeit?
Das soll am Kontrast mit der Gläubigkeit eines etwa 7-jährigen Kindes
gezeigt werden, die noch unreflektiert ist.
Für ein solches Kind ist Gott der freundliche alte weißhaarige Herr
mit Rauschebart, der irgendwo da oben thront, auf seinem Schoß
das liebe kleine Jesulein sitzen hat, das seinerseits in einer Hand
die Erdkugel hält (der am Nordpol ein cirka viertausend Kilometer
hohes Kreuz gewachsen ist).
Dieser alte Herr hört alles, sieht alles, kann alles, weiß alles,
und wacht darüber, dass niemand etwas Unrechtes tut
(z.B. Nasenbohren, oder unerlaubt Schokolade naschen).
Ein Erwachsener mit reflektierter Gottgläubigkeit wird hingegen
unter "Gott" nicht diesen alten Herrn mit Rauschebart verstehen,
sondern eher einen Weltenschöpfer, ein irgendwie allen bekannten Lebensformen
übergeordnetes Wesen, dem das Universum mit seiner unüberschaubar großen
und faszinierenden Vielfalt seine Existenz und sein Sosein zu verdanken hat.
Gott, als die erste Ursache, als der unbewegte Beweger, als die Brüstung,
die bei Überlegungen über die Kausalkette der Entwicklung vor dem Absturz
in die Abgründe des infiniten Regresses bewahrt.
Was und wie, genau, dieser Gott ist, das betrachtet der erwachsene
Gottgläubige als für den menschlichen Verstand nicht erfassbar,
das liegt jenseits seines Erkenntnishorizontes.
Und wie sieht das bei wissenschaftsgläubigen Atheisten aus?
Auch wissenschaftsgläubige Atheisten wissen, oder sollten es zumindest wissen,
dass ihr Erkenntnishorizont begrenzt ist, dass ihr Denken in Kausalketten
zu einer ewigen Fragerei "und was war vorher?",
eben in den infiniten Regress, führt.
Manche Atheisten haben sich als Brüstung, die vor dem Absturz
in die Abgründe des infiniten Regresses bewahrt,
den
Urknall-Mythos zurechtgelegt.
Der Urknall, als die erste Ursache, als der Hervorbringer des Universums,
als Hervorbringer von Zeit, Raum, Materie, Naturgesetzen, usw..
Dieser Urknall-Mythos weist verblüffend große Ähnlichkeiten
mit dem Schöpfungsmythos der Gottgläubigen auf.
Man könnte fast meinen, es wäre der Schöpfungsmythos nach Guttenberg-Manier
kopiert, und lediglich das Wort "Gott" durch das Wort "Urknall" ersetzt worden.
Seriöse Wissenschafter können sich allerdings schon an den Fingern einer Hand
abzählen, dass beim Abschreiten einer sehr langen Kausalkette im Rückwärtsgang,
also beim Rückschließen von einer beobachteten Wirkung auf die dahinterliegende
Ursache, die dann ihrerseits wieder als Wirkung verstanden wird, deren Ursache
rückzuschließen ist, usw.,
die Wahrscheinlichkeit, dass alle Rückschlüsse richtig sind,
sehr schnell auf einen unbrauchbar niedrigen Wert schrumpft.
Schieben wir zur Illustration dieses Sachverhaltes ein paar Rechenbeispiele ein.
Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass jeder einzelne Rückschluss einer Kausalkette
richtig ist, mit 98 % (bzw. 0,98) angesetzt wird, dann ergibt sich schon
bei einer Kausalkette aus rund 35 Gliedern eine Gesamtwahrscheinlichkeit
von weniger als 50 % (genau 0,4931);
bei 100 solchen Kausalkettengliedern ergibt sich eine Gesamtwahrscheinlichkeit
von 0,1326.
Bei einer Einzelwahrscheinlichkeit von 99,8 % (bzw. 0,998) ist schon
bei 350 Kettengliedern die Gesamtwahrscheinlichkeit unter 50 % (genau 0,4962);
bei 1000 solchen Kettengliedern ergibt sich eine Gesamtwahrscheinlichkeit
von 0,1351.
An diesen Rechenbeispielen könnte man nun in Zweifel ziehen,
ob die angenommenen Einzelwahrscheinlichkeiten richtig angesetzt sind.
Hält man sich jedoch auch vor Augen, dass sich die tatsächlich abgelaufenen
Entwicklungsprozesse des Universums, der Erde, des Lebens, etc.,
aus einer sehr sehr großen Anzahl von Teilprozessen zusammensetzen,
dass also Kausalketten mit Millionen, Billionen, oder Trillionen
von Kettengliedern vorliegen, dann ist es praktisch bedeutungslos,
ob die Einzelwahrscheinlichkeit mit 0,98, mit 0,998, oder mit 0,9998
angesetzt wird.
Die resultierende Gesamtwahrscheinlichkeit ist in jedem Fall so klein,
dass die Rückschließerei einem Kaffeesudlesen gleicht.
Ab einer bestimmten Anzahl von Gliedern der Kausalkette wird
die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass alle Rückschlüsse richtig sind,
so klein, dass es schlichtweg nicht mehr sinnvoll ist,
mit der Rückschließerei weiterzumachen.
An diesem Punkt hat der wissenschaftsgläubige Atheist
seinen Erkenntnishorizont erreicht.
Hinter diesem Horizont herrscht dichter undurchdringlicher Nebel.
Wodurch unterscheiden sich nun Atheisten von Gottgläubigen ?
Der Unterschied besteht wohl primär darin,
dass wissenschaftsgläubige Atheisten darauf verzichten,
das außerhalb ihres Erkenntnishorizontes Liegende
irgendwie zu benennen, und ihm bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben.
Das gilt natürlich nur,
soferne diese Atheisten nicht an den Urknall-Mythos glauben.
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