AW: Soziale Gerechtigkeit
Liebe Eule,
da Du immer sehr vehement schreibst, fühle ich mich an früher erinnert:
Vor vielleicht 2-3 Jahren habe ich Menschen, die sich - sagen wir - "kapitalfreundlich" geäußert haben, mit ähnlicher Verve ähnliche Antworten/Anklagen "entgegengeschleudert".
Zu Deinem Verständnis:
Meine Erziehung in Richtung Gleichheit aller Menschen, in Richtung Kommunismus/klassenloser Gesellschaft etc. hat mich bis weit über die Wende hinaus geprägt. Wie es dann zu einem eher liberalen, kapitalorientierteren Sinneswandel kam, sei hier mal außen vor.
Ich schreibe das nur, damit Du nicht denkst, einen in der Wolle gefärbten, menschenverachtenden Kapital/Shareholder-Fanatiker vor Dir zu haben. Meine Argumente versuchen nur darzustellen, was mir im Interesse der Masse der Menschheit (und eben nicht nur der Bevölkerungen von Ö/D!) mittlerweile richtig scheint - und zwar, weil es ökonomische (also eigentlich mathematische) Gesetze gibt, die man mit noch so viel "Gutmeinen" nicht ungestraft verletzt.
Um nun mit Dir über Kapitalismus/Marktwirtschaft/Soziales diskutieren zu können, sehe ich mich gezwungen, Deine etwas ungewohnten Wortdefinitionen zu übernehmen - soweit sie mir verständlcih geworden sind. Also denn:
So sahen es die Kommunisten.
Freie Marktwirtschaft = Kapitalismus
Doch dem ist nicht so. In der freien Marktwirtschaft bekommen alle ein Stück vom Kuchen.
Im Kapitalismus ist nur eines wichtig: Vermehren des Kapitals auf Teufel komm raus. Wachstum auf Kosten jener, die das Kapital "erarbeiten" ist der treibende Faktor im Kapitalismus. Das führt unweigerlich zur Ausbeutung der Arbeiter, die meist nicht einmal mehr genug zum Leben haben, geschweige denn in der Lage sind "Kapital", das sich von selbst vermehrt zu schaffen.
Tief durchatmen... und los:
Freie Marktwirtschaft ist Wettbewerb.
Es geht hier um Konkurrenz, d.h. der Konkurrent ist aus dem Feld zu schlagen.
Wettbewerb ist der Kern jeder nicht-planwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, und ist das Grundmotiv für deren Erfolg gegenüber allen konsens-orientierten, kollektivlastigen Systemen.
Du scheinst hingegen die freie Marktwirtschaft mit einem netten, kuscheligen Parallelexistieren der Akteure gleichzusetzen, wo jeder sein Stück Kuchen kriegt. Das mag es über gewisse (sehr satte) Zeiträume z.B. in Ö und teilweise in D geben/gegeben haben - ist aber in einer grundsätzlich am Wettbewerb orientierten Ordnung
die Ausnahme. Kommen nun andere Verhältnisse und dadurch neue, hungrige Konkurrenten, wird es weniger idyllisch. Und zwar unausweichlich, in gewissem Sinne als höhere, geschichtliche Gewalt.
Die notwendigen Folgen daraus lastest Du nun dem "Kapitalismus" an. Er ist für Dich das Sammelbecken allen Übels. Dabei ist
jedes marktwirtschaftliche Unternehmen dazu verurteilt, Gewinn zu machen - und zwar so viel wie möglich!
Warum das? Weil der Gewinn dazu dient, Investitionen in die Zukunft zu finanzieren. Wer das versäumt. ist zwar nicht heute, aber morgen weg - nebst seinen Mitarbeitern übrigens, die dann auf der Straße sitzen.
Wird also in einer Firma auf hohen Gewinn orientiert, ist das
gerade für die Mitarbeiter gut!
Das führt dazu, daß sich die Schere zwischen arm und reich immer mehr vergrößert, die Mittelschicht steigt nicht auf, sondern sie rutscht in die Armut ab. Wozu das geführt hat, sollte uns die Geschichte lehren.
Von der französischen Revolution über Lenin und Marx bis zum Nationalsozialismus.
Die berühmte "Schere" kann den "Unteren" solange egal sein, wie sie auskömmlich leben. Will heißen, ich fühle mich mit meinem Einkommen wohl, ob da mein Firmenchef 100.000 oder 1 Mio Euro hat, ist mir Wurst.
Kann aber jemand von einem "Fulltime-Job" nicht würdig leben, ist ihm zu helfen, klar. Dafür gibt es unterschiedliche Modelle...
Deine Geschichtsbeispiele passen da übrigens nicht, weil sie durch
Massenelend getrieben waren, wovon wir wahrlich weit weg sind!
Kapitalismus führt nicht zu einem "Nachtwächterstaat"...
Der Nachtwächterstaat ist ja auch nur ein Traum der Liberalen, die den viel zu großen gegenwärtigen Sozialstaat anprangern...
Der Staat fürchtet sich vor denkenen und aufgeklärten Menschen wie der Teufel vorm Weihwasser. Die Pressefreiheit ist doch nur noch eine Farce.
Diese Behauptungen müsstest Du schon beweisen, ich sehe das nicht so, zumindest was "den Staat" betrifft. Leute wie Schäuble vergesse ich da nicht, aber der ist eine Person, der von vielen Gremien auf die Finger geschaut wird.
In der freien Marktwirtschaft wird Kapital genauso versteuert (Vermögenssteuer) wie der Lohn aus Arbeitsleistung.
Liebe Eule, Versteuerung ist in jeder Marktwirtschaft ein mühsam geduldetes Übel, weil Besteuerung eigentlich das gewaltsame Wegnehmen verdienten Geldes ist - also Raub.
Nenne es Kapitalismus oder freie Marktwirtschaft: Der Staat verübt Raub, weil er uns unter Gewaltandrohung unser Geld wegnimmt (z.Z. in D ca. 2/3 unseres Brutto-Einkommens).
Im Kapitalismus ist der Arbeiter/Angestellte dafür zuständig, die sozialen Bedürfnisse zu finanzieren.
Da aber die Arbeitsplätze immer weniger werden, nicht nur auf Grund des technischen Fortschrittes, sondern immer mehr zum Zwecke der Kapitalvermehrung, ist es dem Staat nicht mehr möglich auch nur die minimalste Grundversorgung zu gewährleisten.
Die Arbeitsplätze werden nicht, nicht, nicht immer weniger! Es sind nur andere!
Dass die ganz Großen zu wenig beitragen müssen, stimmt in etlichen Fällen. Es liegt entweder an handwerklicher Unfähigkeit der Politiker (in D vor einigen Jahren!) oder aber an der Lobby-Bande. Dass aber letztere so mächtig werden konnte, liegt genau daran, dass der Staat eben diese 2/3 aller Geldflüsse (in D) steuert, d.h. in entsprechendem Umfang Aufträge vergibt.
Also erneut: Der Staat ist zu groß, es gibt zu hohe Abgaben, zuviel Bürokratie, die Wirtschft (die gelgierigen Unternehmer!) müssen freier agieren können...
Versteh' mich bitte nicht falsch, ich will keinen eisernen Vorhang mehr,aber seit dem Fall der "Mauer" wird das Kapital nicht mehr aufgehalten und kann munter um den Globus geschickt werden. Wo es sich am Meisten vermehrt, dort bleibt es. Aber nur solange als das Wachstum den Erwartungen entspricht. Wird es zuwenig, zieht das Kapital weiter.
Ja, das ist ganz, ganz richtig und wichtig! Nur so haben vormals arme Länder überhaupt die Chance, den Wohlstand ihrer Völker zu erhöhen.
Dazu (d.h. zum ökonomischen Fortschritt) gehören vorrangig:
* Rechtssicherheit
* private Eigentumsrechte eines jeden
* Öffentliche Gewaltenteilung (Legislative/Judikative/Exekutive)
* ökonomisch und human offene Grenzen (keine Handels- und Reisebarrieren)
Damit: Möglichst offene Teilnahme an der Globalisierung statt Abschottung.
Am Ende entsteht dann ein inländisches Kapital, das eben nicht weiterzieht/weiterziehen kann, wenn das "scheue ausländische Reh" evtl. wegzieht. Du versteh'n ? Es bildet sich ein neuer "Boden", ein Kapitalstock im jeweiligen Land (Taiwan, Süd-Korea, Hongkong, Singapur...).
Bei einer freien sozialen Marktwirtschaft bleibt das Geld im Land, investiert wird in den eigenen Betrieb und auch in die Belegschaft.
Die sogenannten "Kleinbetriebe und Mittelständler" waren und sind die größten Arbeitgeber. Doch jeder Marktanteil, und ist er noch so klein, weckt den Neid des Kapitals und es beginnt sie zu "fressen", rauszuholen was rauszuholen ist um schlußendlich "die Konkurrenz" vom Markt zu nehmen. Als Beispiel fällt mir GROHE ein.
Solche sehr regional/national orientierte Denkart hat sicherlich auch ihre Berechtigung, aber Du verabsolutierst sie anscheinend, sprichst sie geradezu heilig. Dabei übersiehst Du aber, dass gerade die erfolgreichen europäischen Mittelständler heutzutage sehr von der Globalisierung profitieren, weil sie riesige neue Märkte mit ihren technologisch überlegenen Produkten beliefern können.
Die kapitalorientieren Konzerne müssen wachsen, um die Gier der Anleger zu befriedigen, was dazu geführt hat, daß immer weniger Menschen von dem Leben können was sie durch Arbeit verdienen. Wenn das Wachstum stagniert, wird Personal abgebaut, was wiederum zu Kaufkraftverlust führt.
Es ist ein Teufelskreislauf und die Folgen sind jetzt schon zu spüren.
In der freien Marktwirtschaft wird ein Teil des Gewinns über Lohnerhöhungen an die Belegschaft weitergegeben. (Ich verdiente in den 70igern mehr als Angestellte heute in derselben Position).
Die Gier, liebe Eule, ist allen Menschen eigen. Der Eine spart an der Zapfsäule oder handelt mit dem Markthändler um den letzten Cent, der andere ist eben Aktionär...
Die gesamte westliche Wirtschaftsordnung ist eine Befriedigungsmaschine der menschlichen Besitzgier - aber auf einem friedlichen, vertragsbasierten Wege, statt durch Krieg:
Noch nie haben zwei demokratische Staaten gegeneinander Krieg geführt (sondern nur Konkurrenkampf, möchte man hinzufügen - ein Riesenfortschritt).
Jedoch zu versuchen, den "gierfreien kollektiven neuen Menschen" zu schaffen, muss scheitern, wie Millionen Kommunismus- und NS-Opfer beweisen.
Ich hoffe, ich konnte rüberbringen was ich meine und damit Deine Fragen beantworten.
So I hope!
Liebe Grüße, pispezi
PS:
Deine beiden Beispiele von heute sind Spezialfälle, da bin ich auch ziemlich unsicher, muss gesondert nachdenken, werde ich aber tun - etwas Geduld bitte.