AW: lieben - die edelste Fähigkeit des Menschen
Also Benjamin, ich denke, Du irrst Dich
Menschen (wie alle Spezies) haben gewisse Fähigkeiten. Einige davon müssen sie umständlich erlernen, wie z.b. die Fähigkeit zu sprechen, andere können sie auf Anhieb z.b. einem anderen Wesen eine Intention zu unterstellen.
Die Fähigkeit zur Liebe ist angeboren. Und hier ist nicht gemeint, was man heutzutage unter "Beziehungsarbeit" versteht, sondern das ursprüngliche Bauchgefühl, die Schmetterlinge im Bauch, weisst schon. Diese Schmetterlinge im Bauch kann man nicht lernen. Wie sollte man das überhaupt jemandem beibringen?
Vielleicht wird mein Standpunkt verständlicher, wenn ich es an einem anderen Beispiel erkläre, auch wenn es leicht vom Thema Liebe abweicht. Eine andere Fähigkeit ist Einfühlungsvermögen und, damit zusammenhängend Mitgefühl. Ich fasse diesen Gefühlskomplex mal als Empatie zusammen. Diese Empatie kann man auch nicht lernen, wie ich gleich zeigen werde.
Es gibt eine Persönlichkeitsstörung, die nennt sich "Asperger Syndrom", ein Spektrum des Autismus. Ein typischer Aspie (deren Selbstbezeichnung) hat eben jene Empatie nicht. Bestimmte Botenstoffe im Gehirn, die dazu nötig sind, fehlen ihm. Um solche Details geht es hier aber nicht.
Wie muss man sich das vorstellen? Wenn ein Aspie ein Ereignis sieht, bei dem ein Mensch irgendwie zu schaden kommt, berührt ihn das nicht. Er sieht es, nimmt es zur Kenntnis und fertig. Er kann sich nicht in die andere Person hineinversetzen und nachfühlen, wie es wäre, wenn er der Betroffene wäre. Allerdings, wie Du Dir denken kannst, eckt man mit so einem Verhalten ziemlich an. Von der Gesellschaft werden solche Menschen dann oft als "Soziopathen" bezeichnet, als gefühlskalte unsoziale Menschen, denen andere scheissegal sind.
Nun haben die meisten Aspies aber eine weitere interessante Eigenschaft: sie sind recht intelligent. Und weil das so ist, merken sie natürlich, dass sie sich in bestimmten Situationen unangebracht verhalten. Was tun sie also? Sie lernen, ihr Verhalten an solche Situationen anzupassen. Bei einem Unfall tun sie dann so, als würden sie Mitleid empfinden, erkundigen sich nach dem Befinden des Betroffenen, bieten Hilfe an und so weiter. Aber nicht, weil sie nun gelernt hätten, wie sich Mitleid anfühlt, sondern weil sie gelernt haben, welches Verhalten in bestimmten Situationen angebracht ist.
Am besten kannst Du Dir das vorstellen, wenn Du Lt. Commander Data von Startrek anschaust. Der ist zwar kein Mensch, aber er ist permanent bemüht, sein Verhalten menschlicher zu machen. Aber er erreicht darin nie die Perfektion, die ein Mensch darin hat, weil er die dazu nötigen Gefühle nicht hat. Ein Aspie ist nichts anderes als ein Data. Er lernt Zeit seines Lebens, sein Verhalten "menschlicher" zu machen, er erreicht dabei aber nie das Level, das "normale" Menschen haben (Info am Rande: Aspies nennen "normale" Menschen übrigens NTs: Neuro Typical Syndrome). Und weil das so ist, wirken diese Menschen auf uns irgendwie schrullig sympathisch und leicht tolpatschig.
Langer Rede, kurzer Sinn: Gefühle sind Dinge, die sich ausserhalb unseres Bewusstseins abspielen, wir können sie kaum steuern, und noch schwerer können wir sie künstlich "herbeirufen". Dies müsste aber der Fall sein, wenn Liebe nicht nur ein Gefühl, sondern eine erlernbare Fähigkeit wäre. Das ist sie nicht, genauso wenig wie Empatie oder Angst.
Um die Sache zu vervollständigen: die Fähigkeit, eine Beziehung langfristig aufrecht zu erhalten, die ich oben als "Beziehungsarbeit" bezeichnet hatte, hat nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Verhalten. In einer solchen Beziehung passen beide Partner permanent ihr Verhalten an das des Anderen an, sie unterdrücken Wünsche oder äussern sie, je nach Lage. Sie geben ihrem Bauch nach oder lassen es. Dies ist ein bewusster Vorgang. Das erkennt man insbesondere daran, dass eine solche Beziehung überhaupt nur funktioniert, wenn beide Partner miteinander reden und auf einander eingehen. Sie tun dies, weil sie sich lieben, das ist richtig. Dieses Verhalten aber ist keine Liebe, sondern "nur" Verhalten: Kritik, Selbstkritik, Anpassung, Selbsterkenntnis - das sind alles keine Gefühle.
lieben Gruss, xcrypto
PS: sorry für den länglich geratenen Beitrag.