Giacomo_S
Well-Known Member
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Es lässt sich kein Text exakt in eine andere Sprache übersetzen, weil es keine oder kaum bedeutungsgleiche Wörter in unterschiedlichen Sprachen gibt.
Das ist ja sowieso klar und gilt auch für moderne Sprachen.
Ganz andere Probleme stellen sich aber, wenn da noch ein Abstand von 2.000 Jahren besteht, eine andere Kultur und ein geografischer Abstand von vielen Tausend Kilometern.
Schrub jemand vor 200 Jahren: "Ein gemeines, niederträchtiges Frauenzimmer", dann war damit eine Dame der besseren Gesellschaft gemeint, die sich wohlmeinend und sozial um ärmere Gesellschaftsschichten kümmerte.
Heute würde man etwas ganz anderes darunter verstehen, de facto das Gegenteil: Eine Frau, die für eigenen, egoistischen Ziele über Leichen geht.
Also: Nach "nur" 200 Jahren hat sich eine Aussage in ihr Gegenteil verkehrt, in derselben Sprache, in derselben Kultur, an demselben Ort.
Wie also sollen wir da erst Aussagen verstehen, die vor 2.000 Jahren gemacht wurden, in einer anderen Kultur, an einem anderen Ort?
"Übersetzungsprobleme" sind nur ein Teil der Problematik, möglicherweise auch nur der kleinere Teil - selbst bei Begriffen, die sich übersetzen lassen. Denn möglicherweise wird der Begriff ganz anders verstanden, da wir die historischen Hintergründe nicht kennen.
So wird in der Bibel der Begriff "Sklave" verwendet, nur entsprach der biblische "Sklave" nicht dem, was wir uns heute unter einem Sklaven vorstellen:
Der israelitische Sklave musste von seinem "Sklavenhalter" ordentlich behandelt und versorgt werden, außerdem endete seine Zeit als "Sklave" nach sieben Jahren. Sein Sklavenhalter hatte ihm zum Ende seiner Zeit als Sklave eine Abfindung zu geben und musste ihn entlassen.
Es handelte sich also eher um eine Art Langzeit-Arbeitnehmer - Stellung, eine soziale Absicherung, möglw. auch eine Art Ausbildungsverhältnis (= jemand verkauft seine Kinder in die "Sklaverei", weil er sie selbst nicht ausbilden und versorgen kann) gehandelt haben. Sicher kann man auch annehmen: Das ist die Theorie, in der Praxis mag es Abweichungen gegeben haben. Und unter eine "ordentliche Behandlung" fiel damals sicher auch das Recht, seine Mitarbeiter schlagen zu dürfen, wenn sie Mist gebaut hatten.
Wie will man also einen Begriff wie "Sklave" in diesem Fall übersetzen? Manche Übersetzungen bedienen sich des Begriffs "Diener" oder "Knecht" - aber auch für diese Synonyme haben wir Bilder vor unserem geistigen Auge. Die Konsequenz daraus ist, dass Übersetzungen, wie sie auch immer gestaltet sein mögen, für das Verständnis historischer Texte nicht ausreichend sind. So gesehen ist auch eine oft geführte, plakative Diskussion über "Fehlübersetzungen" wenig zielführend. Denn so oder so ist es mit einer Übersetzung allein nicht getan.