Gesicherte Aussagen sind deshalb bisher kaum möglich, sodass vor allem Schätzungen abgegeben werden.
Der katholische Theologe und Psychotherapeut
Wunibald Müller geht so beispielsweise davon aus, dass etwa zwei bis vier Prozent aller Kleriker in Deutschland – also rund 350 bis 700 – Kinder oder Jugendliche sexuell missbrauchen. Diese Zahlen waren aber nicht das Ergebnis eigener Nachforschungen, sondern wurden in Übertragung der Zahlen der
John-Jay-Studievon Müller selbst errechnet.
[906] Ähnliche Angaben (mit vermutlich ähnlichem Bezug) machten auch
Franz Grave, Weihbischof im
Bistum Essen[907] und der Präfekt der
Kleruskongregation, Kardinal
Cláudio Hummes im Juni 2009.
[908] Hummes jedoch bezog sich im Gegensatz zu Müller beispielsweise auf den Begriff der Pädophilie, die er als „entsetzliches Verbrechen“ bezeichnete.
Relativ gesicherte Zahlen lieferte die bereits erwähnte
John-Jay-Studie. Danach waren ca. 4 % aller Priester in den USA zwischen 1950 und 2002 des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden. Allerdings waren diese Zahlen auf die USA beschränkt und nicht alle Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs begründet oder glaubwürdig. Auch hierzu gibt es keine gesicherten Vergleichszahlen zu anderen Berufs- oder Religionsgruppen. Lediglich Charol Shakeshaft, Autorin einer Studie über sexuellen Missbrauch an staatlichen Schulen, schätzt, dass die Wahrscheinlichkeit an einer Schule missbraucht zu werden, 100-fach über der Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs durch katholische Priester liege.
[909]
In Deutschland wies
Ursula Enders, Leiterin von
Zartbitter, einer Einrichtung gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen in Köln, daraufhin, dass es trotz unterschiedlicher Medienaufmerksamkeit ihrer Erfahrung nach keinen Unterschied in den Fallzahlen zwischen katholischer und evangelischer Kirche gebe.
[910]
Hans-Ludwig Kröber, Professor für
Forensische Psychiatrie an der
Charité Berlin, kam 2010 nach einem Vergleich von Polizeiakten mit Angaben von 24 der 27 befragten deutschen Bistümer
[911] zu dem Ergebnis, dass sich in Deutschland katholische Geistliche
statistisch seit 1995 deutlich seltener an Kindern und Jugendlichen vergingen als nicht zölibatär lebende Männer. Er stellte die seit 1995 in Deutschland etwa 210.000 polizeilich erfassten Fälle von Kindesmissbrauch den vom Nachrichtenmagazin
Spiegel in dieser Umfrage ermittelten 94 bekannt gegebenen Verdachtsfällen innerhalb der katholischen Kirche gegenüber. Daraus folgerte Kröber, dass bei nichtzölibatär lebenden Männern die Wahrscheinlichkeit Täter zu werden 36-fach höher sei als bei Priestern.
[912] Diese Einschätzung wurde jedoch von Vorstand der
Giordano-Bruno-Stiftung heftig kritisiert. So sei bei einem Vergleich von 94 kircheninternen Missbrauchsfällen mit der Gesamtstatistik der polizeilich erfassten Missbrauchsfälle nicht nur die „Datenlage höchst problematisch“, wie gbs-Sprecher
Michael Schmidt-Salomon erklärte.
[913]
Allerdings hatte sich die Anzahl der Verdachtsfälle im Zuge der Bekanntwerdung von Missbrauchsfällen innerhalb der Kirche im Frühjahr 2010 zwar auf über 250 Fälle (einige jedoch auch vor 1995) mehr als verdoppelt,
[914] bewegte sich jedoch insgesamt immer noch im Bereich des von Kröber geäußerten Verhältnisses.
Ähnliche Vergleiche mit ähnlichen Ergebnissen wurden auch bereits in den USA angestellt: Den Zahlen aus der
John-Jay-Studie, nach denen es in der Katholischen Kirche in den USA von 1950 bis 2002 10.667 mögliche Opfer gegeben haben könnte, wurde so die amtliche Kriminalstatistik gegenübergestellt, wonach es in den USA jährlich 89.355 bis 149.800 Opfer von Kindesmissbrauch gibt.
[915]
Auch der Kriminologe
Christian Pfeiffer vom
Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen unterstützte die Äußerungen Kröbers. Von den seit 1995 bekanntgewordenen Missbrauchstätern waren demnach 0,1 % Geistliche. Selbst wenn man bei Priestern und Kirchenmitarbeitern aufgrund ihrer religiösen Reputation höhere Dunkelfeldraten als in anderen Bereichen der Gesellschaft unterstellen würde, ergäbe sich kein anderes Bild. Pfeiffer resümierte daher auch, dass die katholische Kirche kein quantitatives, sondern ein qualitatives Problem habe und verwies auf den bisherigen Umgang mit den Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche.
[916]
In Deutschland stehen den im Jahre 2010 bekannt gewordenen ca. 300 Fällen von Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche
[914] etwa 12.000–16.000 Opfer sexuellen Missbrauchs pro Jahr gegenüber.
[917]
In den USA hatte der
Christian Science Monitor im Frühjahr 2002 nach nationalen Studien von Christian Ministry Resources das folgende Fazit gezogen: “Despite headlines focusing on the priest pedophile problem in the Roman Catholic Church, most American churches being hit with child sexual-abuse allegations are Protestant, and most of the alleged abusers are not clergy or staff, but church volunteers.” („Auch wenn sich die Schlagzeilen auf das Problem pädophiler Priester in der Römisch-Katholischen Kirche konzentrieren, so sind die meisten Kirchen, die in den USA von Fällen von Kindesmissbrauch betroffen sind, protestantisch. Die Beschuldigten sind außerdem nicht primär Pfarrer oder Kirchenangestellte, sondern vor allem ehrenamtliche Mitarbeiter.“)
[918]
Nach einer Erklärung des Heiligen Stuhls gegenüber der
UN-Menschenrechtskommission, vorgetragen von Erzbischof
Silvano Tomasi, zeigen die verfügbaren Nachforschungen, dass in den letzten 50 Jahren 1,5 bis 5 % des römisch-katholischen Klerus in sexuelle Missbrauchsfälle verwickelt waren, davon 80 bis 90 % in Fällen, bei denen die Opfer männlich und zwischen 11 und 17 Jahren alt waren. Tomasi zeigte auch auf, dass Missbräuche durch katholische Geistliche seltener seien als bei anderen Konfessionen, und dass nach dem U.S. Department of Education Missbrauchsfälle an Schulen etwa hundertfach häufiger wären, als durch Priester. Tomasi unterstrich, dass man bei sexuellem Missbrauch also nicht von einem speziellen Problem der katholischen Kirche ausgehen könne, die Kirche gleichwohl aber sehr bewusst und ernsthaft das Problem angehe.
[919]
Der Ankläger des Vatikans in der für Missbrauchsfälle zuständigen Glaubenskongregation, Monsignore
Charles Scicluna, nannte der Öffentlichkeit am 13. März 2010 folgende Zahlen: Im Zeitraum von 2001 bis 2010 habe der Vatikan rund 3.000 Beschwerden über Fälle aus den vergangenen 50 Jahren erhalten. In rund 30 Prozent handelte es sich um heterosexuelle Kontakte, in 60 Prozent der Fälle um gleichgeschlechtliche Kontakte und in zehn Prozent der Fälle gehe es um pädophile Übergriffe Geistlicher. Etwa 300 von weltweit 400.000 Priestern seien der Pädophilie bezichtigt worden.
[836]