Muzmuz, ich frage mich, wie es kommt, dass du die heutige Situation so fundamental anders siehst, als ich. Würde ich sie auch so wahrnehmen, ich käme zu den selben Schlüssen, oder würde es zumindest für möglich halten.
Ich denke nicht, dass wir die heutige Situation in unseren Regionen anders sehen, sie jedoch anders beurteilen.
Für mich steht fest, dass die Lage heute hoch brisant ist, dass unsere gesellschaftliche Welt völlig aus den Fugen ist, ja unsteuerbar. Und das kommt eben nicht weil wir es so wollen, sondern weil sich die Politik völlig verzettelt hat, bei dem Versuch, alles völlig einseitig zu steuern, aber es anders darzustellen. All die Verwerfungen resultieren für mich aus dieser Unaufrichtigkeit, einem System von Lügen eben, das versucht, bestimmte Bevölkerungsteile witzschaftlich überproportional zu bevorteilen und andere naturgemäß eben nicht, sondern das Gegenteil. Weil sie die Arbeitskraft gegenüber dem Kapital bewusst abgewertet haben und so die Bevölkerung spalten in Herren und Habenichtse, schlimmer noch, die Arbeitskraft zur Ware für das Kapital degradiert haben, das damit spielen und spekulieren kann. Das ist ein fundamentaler Angriff auf die Lebensgrundlagen der Normalbevölkerung, ihre totale Entmachtung.
Dass die gesellschaftliche Welt ziemlich "unsteuerbar" ist, sehe ich auch. Für mich mit ein Grund, warum Verschwörungsszenarien, in denen einige Wenige die Welt genau so steuern würden wie sie wollten, und das auch noch verdeckt, äußerst unrealistisch sind.
Die Aufspaltung der Welt in Herren und Habenichtse ist keine "Erfindung der Neuzeit" ode rüberhsaupt der Zivilisation. Sie liegt in der Natur der Sache und die Zivilisation, zumindest in unseren Breiten arbeitet dagegen. Einmal mit mehr, einmal mit weniger Erfolg.
Wie es sonst sein könnte verrät ein Blick in andere Weltregionen oder noch besser ein Blick in die Geschichtsbücher (siehe industrielle Revolution und die Situation der damaligen Arbeiter).
Es gibt eine Bandbreite in Sachen Beteiligung und Gerechtigkeit, innerhalb der eine Gesellschaft stabil funktionieren kann. Wird sie verlassen, also das Verhältnis zwischen dem Durchschnitt und der Luxusklasse zu groß, dann wird es instabil, dann beginnt es zu gären. Und genau das ist in Deutschland besonders stark geändert worden, und zwar mit Absicht.
Meinst du mit der unterstellten Absicht, dass jemand wirklich wollte, dass es dem Durchschnitt schlechter ginge ?
Es wurde nur möglich, weil eben keine Partei mehr die Interessen der normalen Arbeitnehmer vertritt. Der Schuldige ist schnell benannt: es ist die SPD. Gerhard Schröder hat nicht nur seine Partei auf dem Gewissen, sondern auch den sozialen Frieden in Deutschland. Er hat die neoliberale Drecksarbeit für die Union und die FDP erledigt und unser Land in die Krise geführt, unter der heute ganz Europa leidet. Jetzt erntet er die Früchte seiner Arbeit, indem er von Gazprom ein fettes Gehalt einstreicht. So sieht es aus. Die SPD hat deshalb die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren, ist auf den niedrigsten Stand ihrer langen Geschichte zurückgefallen.
Ich denke das wurde möglich bzw unvermeidbar, weil der "normale Arbeitnehmer" von heute nicht der selbe ich wie vor 50 Jahren. Auch der "normale Arbeitnehmer" hat ein zumindest bescheidenes Vermögen, ist Anleger, also auch in seinem bescheidenen Umfang Kapitalist. Der tagelöhnergleiche Arbeitnehmer, der früher der "Normalzustand" war, ist heute die Ausnahme.
In Österreich gibts es schon eine Partei, die sich an die Fahnen heftet, die Interessen der sich machtlos fühlen Arbeite zu vertreten, es sind die Freiheitlichen. Die stehen aber politisch nicht so weit links wie die Sozialisten vergangener Tage.
Der Wähler hat sie abgestraft und damit letztlich sich selbst getroffen und damit das Arbeitsvolk entmachtet. Wer ist nun schuld? Die Wähler, die erkannt haben, dass sie verraten wurden und das Einzige taten, was sie können, oder vielleicht doch die Union, die seit Jahrzehnten behauptet, eine Volkspartei zu sein, aber schon immer eine Partei der Bessergestellten und Unternehmer war? Fakt ist, dass diese Beiden zwar behaupten, Volksparteien zu sein, es aber nicht sind. Sie werden nur mangels Alternative noch immer gewählt, während die Wahlbeteiligung immer weiter sinkt, weil die Leute genau das festetellen, was ich beklage. Die Betroffenen gehen nicht mehr zur Wahl, weil sie die Sinnlosigkeit erkannt haben, nämlich, dass ihre Interessen niemand der Mächtigen mehr vertritt. So sieht es derzeit aus in Tschörmenie.
Die Situation in Deutschland kenne ich nicht so genau. In Österreich ist aber so ziemlich genau das schon einmalpassiert, nämlich 1999. Da wurde jahrelanger Stillstand beklagt, weil die großen Parteien SPÖ und ÖVP groß koalierten. Da kamen die FPÖ und meinte Bonzen, Stillstand, Karpfenteil, es müsste sich endlich etwas tun. Und siehe da, in der nächsten Legislaturperiode waren sie als "kleiner Koalitionspartner" mit der ÖVP an der Regierung. Lustigerweise hatte der kleine Koalitionspartner mehr Stimmen als der große, aber das ist eine eigene Geschichte.
Was passierte war das, dass sie Verschwörungsskandierer selbst die größten Postenschacherer waren und sich gütlich am Staat bedienten.
Während aberwitzige Summen in andere Länder gepumpt werden, um sie, Banken, Eurpoa und den Euro zu retten, reicht es im Lande hinten und vorne nicht mehr. Die Kommunen sind pleite, Straßen und Brücken verrotten, die Kinder sitzen in Bruchbuden von Schulen, öffentliche Einrichtungen werden geschlossen, ganze Landstriche veröden. Wer keine Arbeit hat, ist eine arme Sau, wer hat, aber meist auch. Selbst den Beschluss, dass Leute nach 45-jähriger Beitragszahlung mit 63 in Rente gehen können, kippen sie gerade wieder. Sind völlig überrascht von der Flut der Anträge. Das Ausland hat Priorität. Für die eigenen Leute gibt es Geld nach Kassenlage. Ist das ein Naturgesetz? Oder vielleicht doch ein Riesenbetrug?
Die Situation ist nicht schön, aber um sie wirklich beurteilen zu können fehlt mir der genaue Durchblick (und ich fürchte, auch dir). Aber auch bei Privatkonkursen ist es so, dass jemandem, der Schulden hat, ein haufen Geld letztendlich geschenkt wird. Die Gläubiger tragen den Schaden. Mit ein Grund, warum geliehenes Geld verzinst wird.
Zum Abschluss zurückkommend auf die einleitende Frage:
Ich denke wir beurteilen sehr unterschiedlich, weil du die beobachtete Situation mit deiner Idealvorstellung vergleichst. Da die Realität dabei verlieren muss, tut sie das auch. Ich vergleiche sie sowohl mit meinen Idealvorstellungen aber auch mit anderen Realen Situationen. Und dadurch komme ich zu einem zweiseitigen Schluss. Nämlich, dass vieles verbesserungswürdig ist, aber auch dass es uns verglichen mit dem überwiegenden Großteil der Weltbevölkerung und verglichen mit anderen Zeiten sehr sehr gut geht.