• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Der Zufall - und wie wir damit umgehn

Robin schrieb:
Für diese überraschend spekulative Ansicht hätte ich gerne eine nähere Begründung.
Nach meiner Ansicht gibt es nur zwei schlüssige Ideen über die Welt:
1) Die Dinge an sich im Sinne von Kant. Das heißt, es wird angenommen, dass es eine Welt der Dinge gibt, die wir aber nicht erfassen können, da wir nur mit den Wahrnehmungen der Dinge operieren können, nicht mit den Dingen selbst.
2) Die Welt als momentane, gegenwärtige Konstruktion von Wahrnehmung. D.h. Die Welt enteht für uns von Moment zu Moment, zerfällt in dem Moment schon, da wir sie erneut momenthaft wahrnehmen. Dies ist das Kernmodell eines operativen Konstruktivismus wie der Systemtheorie.

Die Welt einer imaginären Zukunft als existent zu betrachten, kann ich da nicht recht einordnen. Es gibt zwar unendliche, zufällige (kontingente) Möglichkeiten; die werden aber erst real, wenn sie (momentgebunden) eintreten.

Hallo Robin,

da habe ich mich etwas leichtsinnig auf philosophisches Terrain begeben, auf dem ich mich nicht zu Hause fühle. Das Ding an sich gemäss Kant (das Wesen der Dinge) verstehe ich noch, aber von "operativem Konstruktivismus" verstehe ich wirklich nichts. Können denn die Philosophen nicht verständlicher schreiben ...?

Du fragst nach einer Begründung für meine Ansicht.

Ich sehe die Welt nicht als blosse Ansammlung von Dingen. Als Physiker meine ich, dass es zwischen den Dingen Zusammenhänge gibt, die ebenso existent sind wie die Dinge selbst. Für mich entsteht die Welt nicht einfach von Moment zu Moment. Zumindest die nähere Zukunft ist nicht so "imaginär" wie es vielleicht dem Philosophen scheinen mag. Strenggenommen ist es natürlich ein Widerspruch, das Zukünftige als existent zu betrachten.

Die Überlegungen der Philosophen mögen scharfsinnig sein, aber ob sie immer praktisch hilfreich sind, wage ich zu bezweifeln. Ich denke da immer an das Zenonsche Paradoxon (Achilles überholt die Schildkröte nie) , das wirklich beeindruckend ist, aber nichtsdestoweniger falsch. Die alten Griechen kannten halt den Begriff des Grenzwertes nicht.

Versteh' das bitte nicht als Angriff auf die Philosophie oder die Philosophen.

Gruss
Hartmut
 
Werbung:
Kleine Zwischenbemerkung

Zuvor habe ich beim Thema "Und da war Nichts", folgenden Satz geschrieben, mich auf eine philosophische und auf eine physikalische Ebene beziehend (über das das Nichts):

"Sich auf beiden Ebenen zu bewegen , wird immer schwieriger, denn es besteht tatsächlich auf dem Gebiet eine große Kluft zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen."

Ich frage mich nun, ob das nicht auch beim Thema Zufall so ist. Die konkreten Beweise die eine These unterstützen würden, entsprechen nicht unseren subjektiven Erleben oder unserer eigenen Erfahrung, die uns zwar zur Verallgemeinerung verleitet, doch keine Gültigkeit haben dürfte. Nach meinem Verständnis bewegen wir uns auch hier zwischen den beiden Ebenen: konkret feststellbare Fakten, subjektives Empfinden.

Ich möchte aber nun etwas mehr auf die Ebene unseres eigenen Umgangs mit dem Zufall überleiten.

Auf deinen Beitrag, Robin, zu dem ich dir in vielen Hinsichten recht gebe, antworte ich mit einer persönlichen Erklärung:

Um es klar zu sagen: ich bin eine Befürworterin des Zufalls und finde, dass wir uns nicht genug auf ihm einlassen. Dadurch beschneiden wir uns unserer kreativen Kräfte, nehmen uns viele mögliche Chancen.
Wenn ich dann Beispiele aufzähle die zwar nicht deterministisch zu nennen sind, aber doch manches sich wiederholendes Muster erkennen lassen, ist es um die Rolle des Zufalls genau einordenen zu können. Deswegen habe ich auch diesen Thread "Der Zufall - und wie wir damit umgehn" betitelt.

Wir neigen nämlich (und da schließe ich mich nicht aus) zum Planen, was aber immerwieder unsere Möglichkeiten einschränkt. Ist das nicht letztendlich ein Schwanken zwischen Sicherheit und offenen Möglichkeiten, mit einer Vielzahl von vorstellbaren Antworten oder Lösungen? Doch wir wollen uns auf kein Risiko einlassen.
Und ist nicht auch das Glauben an einem Höheren Plan etwas ähnliches? Wir möchten uns immer in der Obhut uns wohl gesinnter Kräfte wähnen.
Nochmals: nur wenn wir den Zufall zulassen, geben wir unserer Kreativität auch Entfaltungsmöglichkeiten.

Diese schlechte Angewoncheit, während ich schreibe doch noch in einem zweiten Fenster zu gucken, was sich im Thread noch tut! Und so lese ich den schönen Beitrag von Hartmut, in dem er sich in der Philosophie als nicht zu Hause sich fühlend bezeichnet! Daraufhin wollte ich meinen Beitrag schon löschen, tue es doch nicht.
 
Robin schrieb:
Selbstorganisation ist auf Zufälle angewiesen. Biologisch Mutationen. Soziologisch zufällige Ereignisse, Katastrophen, aber natürlich auch in einem wesentlich kleineren Bereich.
....
Denn, wie Camajan bewies, sind Zufälle sozusagen wahrscheinlich - wenn man sie nicht individuell bertrachtet.
Die Tatsache, dass es sowohl auf biologischer wie auch auf soziologischer Ebene Parallelentwicklungen an örtlich unabhängigen Orten gibt, muss noch nicht auf "versteckte Muster" hinweisen.
Hallo Robin,

da du mich zitierst möchte ich hierzu gern Stellung nehmen.

Tatsächlich sehe ich es genauso, dass die auf der Erde beobachtete Form von
Selbstorganisation rein zufällig ist. Die Abfolge von fast unglaublichen Zufällen,
die unsere Existenz ermöglichen, sehe ich als quasi unmöglich an. Die Position
der Erde zur Sonne, die Existenz unseres Mondes, die Existenz des Jupiters,
die Evolution des Lebens auf der Erde - alles für sich genommen extrem
unwahrscheinliche Ereignisse.

OB diese Form der "Selbstorganisation" hier also einer Regel folgt, lässt sich
nur dann abschätzen, wenn die statistische Grundgesamtheit nicht identisch
gleich eins ist - nämlich die Erde. Man müsste ein paar hunderttausend ähnlicher
Planeten untersuchen und daraus statistische Aussagen generieren. Dazu sind
wir aber (zur Zeit) nicht in der Lage.

Im Prinzip könnten also unsere "organisierten" Verhältnisse ein einziges mal im
gesamten Universum existieren, und zwar nur aufgrund der unermässlich
vielen ähnlichen Konstellationen. Die riesige statistische Grundgesamtheit im
Universum erlaubte dann auch fast unmögliche Zustände - wie den auf der Erde.

Gruss
Camajan
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Miriam,

Miriam schrieb:
Deswegen habe ich auch diesen Thread "Der Zufall - und wie wir damit umgehn" betitelt.

Wie gehen wir im praktischen Leben mit dem Zufall um? Hauptsächlich dadurch, dass wir uns versichern! Oder wir treffen anderweitig Vorsorge.

Wenn ich z.B. eine kompliziertere Dienstreise mit etlichen Umsteigepunkten antrete, dann plane ich von vornherein zeitliche Reserven ein. Ich nehme einen Bus oder ein Tram oder einen Zug früher und schütze mich damit gegen zufällige Ausfälle der Verkehrsmittel. Das alles gehört in die Kategorie der Ereignisse, die zwar prinzipiell bekannt sind, aber dennoch dem Einzelnen als zufällig erscheinen.

Nochmals: nur wenn wir den Zufall zulassen, geben wir unserer Kreativität auch Entfaltungsmöglichkeiten.

Da stimme ich Dir vorbehaltlos zu. Ohne Zufall wäre unser Leben durch den "Laplace'schen Dämon" bestimmt.

Gruss
Hartmut
 
Zufall und Kausalität

Mit der Bitte um Nachsicht möchte ich als Greenhorn in diesem Kreis zunächst bekennen, dass ich mich glücklich schätze, von Miriam auf dies Forum aufmerksam gemacht worden zu sein, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
Es ist bei weitem das beste, was ich kenne.
Zum Thema selbst, so sehr es mich auch interessiert, vermag ich kaum fundamental Neues beizusteuern, deshalb darf ich mich mit ein paar Anmerkungen begnügen.
Wir alle haben wahrscheinlich im Leben schon die unglaublichsten Zufälle erlebt, das man unwillkürlich geneigt ist zu fragen: Kann das Zufall sein?
Ein guter Freund von mir, Geschäftsmann in einer Kleinstadt, landet zufällig(?) in einem abgelegenen Hotel in Namibia. Unlustig entschließt er sich, am späten Abend noch einen letzten drink unten an der Hotelbar zu nehmen. Und wen sieht er da in eng vertraulichem Gespräch mit einer schönen jungen Dame: Seinen Ortspfarrer – nur die Frau war nicht dessen Ehefrau, sondern die verheimlichte Freundin. Wollte Gott so seinen sündigen Knecht strafen oder war es doch wieder nur ein Zufall?
Ich stimme Miriam zu, dass es ein Art Grundbedürfnis ist, nach Entstehungsmuster zu suchen, weil wir schon sehr früh anfangen, Kausalitäten zu erkennen. Der erst wenige Monate alte Säugling entdeckt z.B., dass es ein Geräusch gibt, wenn er mit dem Löffel auf sein Bettchen schlägt. Alles hat eine causa, auch die Koinzidenz, das zufällige, gleichzeitige Aufeinandertreffen von nicht zusammen hängenden Ereignissen, von denen jedes für sich genommen schon sehr unwahrscheinlich ist. Dennoch ist auch sie prinzipiell kausal erklärbar und Kreationisten mögen in Gott die letzte causa, die ursprünglichste Ursache aller Ursachen sehen. – Doch dazu vielleicht mehr im Thread „Gott würfelt nicht“.
Ziesemann
 
Als ich heute mal wieder in meine Mappe mit dem Stichwort "Zufall" hineinschaute, dachte ich mir, dass das Thema tatsächlich einen Art Dauerbrenner werden könnte, so vieles wäre noch dazu zu sagen.

Aber erst einmal zu deinem Beitrag, Ziesemann. Und zum Pfarrer, der fern der Heimat, ein wenig Glück geniessen wollte. (Wie gut man ihn verstehen kann!). Nur denke ich, dass er in dieser zufälligen Begegnung mit einem Gemeindemitglied, zwar einen Wink des Zufalls gesehen hat - aber welchen?
Es empfiehlt sich in der Zukunft nicht in Namibia fremd zu gehen...
Dies nur ein kleines, von einem Augenzwinkern begleitetes Beispiel zu unserem bestreben, Zufälle zu interpretieren, und zur Falle der falschen Zusammenhänge (oder Kausalitäten), in die wir so oft hineintapsen.

Eigentlich wollte ich hier über zwei Persönlichkeiten schreiben, Vater und Sohn, die beide sich auf sehr unterschiedlichen Weise mit dem Zufall befasst haben.
Ich fange mit dem Sohn an, weil seine Geschichte mich sehr berührt.

Der Sohn ist Wolfgang Döblin, der sich später Vincent Döblin nennt, denn er war mit seiner Familie, 1933 erst in die Schweiz, dann nach Frankreich vor den Nazis geflüchtet. Vincent ist Mathematiker und sein Ende ist tragisch. Am 21. Juni 1940 kämpft er in der französischen Armee in den Vogesen. Als sich die deutschen Truppen nähern, erschießt sich Vincent. Er ist erst 25 Jahre alt.

Sehr viel später erst, findet man in den Archiven der französischen Akademie der Wissenschaften einen Brief von Wolfgang Döblin, und dieser wird im Jahr 2000 zur Sensation. Döblin hatte sich hier mit der für die Wahrscheinlichkeitsrechnung wichtigen Gleichungen des russischen Mathematikers Andrej Kolmogorow auseinandergesetzt und diese weiterentwickelt. Dabei geht es um die Berechnung des Zufalls der "Brownschen Bewegung" eines Mückenschwarms oder von Staubpartikeln im Gegenlicht.

Rein zufällig wird hier (sicher?) Hartmut vorbeischauen, und mehr dazu sagen - er kann dies wesentlich besser als ich.

Und nun zum sehr berühmten Vater von Wolfgang Döblin.
Es ist Alfred Döblin, der sich auf seiner Weise auch mit der Frage des Zufalls befasst hat, ganz anders als der Sohn es tat. Denn was dem Schriftsteller beschäftigt, ist immerwieder, ob es Zufall oder Schicksal ist, was den Einzelnen zum handeln bewegt. Die Ereignisse, die wir heute als Koinzidenz oder andere als kausal einordnen würden, beschäftigen ihn - mit anderen Worten: die Gleichzeitigkeit, in welcher Relation zueinander die einzelnen Geschehnisse auch stehen.
Ich stelle mir die Frage, ob es wieder der Einfluß von Einstein ist, der auch Alfred Döblin in diese Richtung denken lässt.

Doch wieso befassen sich Vater und Sohn beide mit dem Zufall, wenn auch auf so unterschiedlicher Weise. Ist das auch Zufall?

Dem Schriftsteller und Germanisten Marc Petit ist es zu verdanken, dass er uns diese zwei Biographien und deren Beschäftigung mit dem Zufall, wenn auch auf so unterschiedlicher Weise, näher gebracht hat.

Marc Petit: Die verlorene Gleichung.
 
Werbung:
Miriam schrieb:
Sehr viel später erst, findet man in den Archiven der französischen Akademie der Wissenschaften einen Brief von Wolfgang Döblin, und dieser wird im Jahr 2000 zur Sensation. Döblin hatte sich hier mit der für die Wahrscheinlichkeitsrechnung wichtigen Gleichungen des russischen Mathematikers Andrej Kolmogorow auseinandergesetzt und diese weiterentwickelt. Dabei geht es um die Berechnung des Zufalls der "Brownschen Bewegung" eines Mückenschwarms oder von Staubpartikeln im Gegenlicht.

Rein zufällig wird hier (sicher?) Hartmut vorbeischauen, und mehr dazu sagen - er kann dies wesentlich besser als ich.

Hallo Miriam,

zunächst danke ich für den interessanten Hinweis auf die Döblins und das Buch von Marc Petit (wissenschaftshistorische Dinge sind ein Hobby von mir). Das Unterforum "Wissenschaft und Technik" besuche ich aber regelmässig, und so bin ich mit Notwendigkeit auf Deinen Beitrag gestossen.

Ja, Miriam, über die Brownsche Bewegung liesse sich viel sagen. Etliche Wissenschaftler haben sich mit diesem Phänomen befasst (Einstein, Langevin, Perrin, Smoluchowski etc.), ging es doch um einen weiteren Beleg für die atomistische Struktur der Materie.

In Verbindung mit dem Thema „Zufall“ scheint mir der Zusammenhang zwischen Zufall und Notwendigkeit (Gesetz) von Bedeutung.

Zunächst kurz zum Phänomen der Brownschen Bewegung. Diese Bewegung wurde erstmals von dem Botaniker Robert Brown im Jahre 1828 beobachtet (zufällige Bewegungen von Blütenstaub, der in Wasser suspendiert war) und erst viel später gedeutet (EINSTEIN, 1905). Heute sagen wir, dass Brown die Folgen der Stösse bzw. des Bombardements der unsichtbaren Wassermoleküle gegen die suspendierten Teilchen sah.

Aus der zufälligen, chaotischen Bewegung der suspendierten Teilchen in der Flüssigkeit lässt sich die mittlere quadratische Verschiebung der Teilchen während einer Zeitspanne t bestimmen (messen). Diese Verschiebung ist nach der von EINSTEIN im Jahre 1905 hergeleiteten Beziehung von Temperatur und Zähigkeit der Flüssigkeit, der Grösse (Durchmesser) der suspendierten Teilchen und der Zeitspanne t der Beobachtung abhängig. In die Beziehung geht auch die sog. Avogadro- oder Loschmidt-Zahl N (Zahl der Moleküle pro Mol) ein.

Aufgrund dieser Beziehung (Gesetz) reichen einige kleine, aber im Vergleich zu Molekülen grosse Teilchen (Kügelchen vom Durchmesser < 0,001 mm), eine Stoppuhr und ein Mikroskop aus, um die Avogadro-Zahl und damit die Molekülmasse zu bestimmen! Ist das nicht furchtbar aufregend?

Einstein schrieb im Jahre 1915:

"Die Brownsche Bewegung ist einmal deshalb von grosser Bedeutung, weil sie gestattet, die Zahl N, also auch die exakte Grösse der Moleküle ganz exakt zu berechnen ... Man sieht gewissermassen unter dem Mikroskop unmittelbar einen Teil der Wärmeenergie in Form von mechanischer Energie bewegter Teilchen."

Vom mathematischen Standpunkt aus gesehen würden wir heute sagen, dass Einstein 1905 die Diffusion als MARKOWschen Prozess betrachtet hat; diese Prozesse sind nach dem russischen Mathematiker A. A. MARKOW benannt, der die nach ihm benannten MARKOW-Ketten 1906 einführte. Einstein stellte damit einen Zusammenhang zwischen der Zufallsbewegung eines einzelnen Teilchens und der Diffusion vieler Teilchen her.

Für MARKOWsche Prozesse gelten Differentialgleichungen, die von dem russischen Mathematiker KOLMOGOROW formuliert wurden. Damit sind wir wieder bei W. Döblin.

Übrigens: Jean Perrin erhielt 1926 den Physik-Nobelpreis für seine Arbeiten zur Brownschen Bewegung.

Gruss
Hartmut
 
Zurück
Oben