"Man denke sich ein Mal, daß der Zeugungsakt weder ein Bedürfniß, noch von Wollust begleitet, sondern eine Sache der reinen, vernünftigen Überlegung wäre: könnte wohl dann das Menschengeschlecht noch bestehen? Würde nicht vielmehr Jeder so viel Mitleid mit der kommenden Generation gehabt haben, daß er ihr die Last des Daseins lieber erspart, oder wenigstens es nicht hätte auf sich nehmen mögen, sie kaltblütig ihr aufzulegen? - Die Welt ist eben die Hölle, und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin.
Da werde ich wohl wieder vernehmen müssen, meine Philosophie sei trostlos; eben nur weil ich nach der Wahrheit rede, die Leute aber hören wollen, Gott der Herr habe alles wohlgemacht. Geht in die Kirche und laßt die Philosophen in Ruhe!
(...)
Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientierung im Leben, bei der Hand zu haben, und um dasselbe, ohne je irre zu werden, stets im richtigen Lichte zu erblicken, ist nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne, diese Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine Strafanstalt, eine Strafkolonie, ein Arbeitslager. (...) Hat man jene Gewohnheit angenommen; so wird man seine Erwartungen vom Leben so stellen, wie sie der Sache angemessen sind, und demnach die Widerwärtigkeiten, Leiden, Plagen und Not desselben, im Großen und im Kleinen, nicht mehr als etwas Regelwidriges und Unerwartetes ansehn, sondern ganz in der Ordnung finden, wohl wissend, daß hier Jeder für sein Dasein gestraft wird, und zwar Jeder auf seine Weise. Zu den Übeln einer Strafanstalt gehört dann auch die Gesellschaft, welche man daselbst antrifft. Wie es um diese hieselbst stehe, wird, wer irgendwie einer besseren würdig wäre, auch ohne mein Sagen wissen. Der schönen Seele nun gar, wie auch dem Genie, mag bisweilen darin zu Mute sein, wie einem edlen Staatsgefangenen, auf der Galeere, unter gemeinen Verbrechern; daher sie, wie dieser, suchen werden, sich zu isolieren. Überhaupt jedoch wird besagte Auffassung uns befähigen, die sogenannten Unvollkommenheiten (...) der meisten Menschen, ohne Befremden, geschweige mit Entrüstung, zu betrachten: denn wir werden stets im Sinne behalten, wo wir sind, folglich jeden ansehen zunächst als ein Wesen, welches nur in Folge seiner Sündhaftigkeit existiert, dessen Leben die Abbüßung der Schuld seiner Geburt ist. (...) In der Tat ist die Überzeugung, daß die Welt, also auch der Mensch, etwas ist, das eigentlich nicht sein sollte, geeignet, uns mit Nachsicht gegen einander zu erfüllen: denn was kann man von Wesen unter solchem Prädikament erwarten? - Ja, von diesem Gesichtspunkt aus könnte man auf den Gedanken kommen, daß die eigentlich passende Anrede zwischen Mensch und Mensch "Leidensgefährte" sein sollte."
Arthur Schopenhauer