Eine kurzsichtige Perspektive. Das Beichtgeheimnis soll in erster Linie MENSCHEN dienen - und auch (nach staatlicher Gesetzeslage definierte) Täter sind aus Sicht der Kirche zunächst einmal Menschen. Und besonders in den hier ins Auge gefassten Szenarien, sind jene, die hier als "Täter" bezeichnet werden, lediglich Verdächtige. Also nicht verurteilt und gemäß Unschuldsvermutung Unschuldige, bis sie eines Tages eventuell rechtskräftigt verurteilt werden. Also soll hier zwischen "gleichen" und "gleicheren" unterschieden werden, wobei das Beichtgeheimnis gefälligst nur für UNS, nämlich die GLEICHEREN zur Verfügung stehen dürfte. Den ANDEREN, dürfe es -zu UNSEREM SCHUTZ- nicht zustehen.
Aber, auch wenn man den juristischen Formalismus bei Seite lassen möchte: Die Zivilisation einer Gesellschaft lässt sich vor Allem an ihrem Umgang mit ihren Ausgestoßenen/Außenseitern erkennen. Wer also meint, ein Straftäter müsse nicht nur gemäß Strafgesetzbuch, sondern daneben mit allen möglichen sonstigen Triezereien (und möglichst Entzug aller zivilisatorischen und gesellschaftlichen Annehmlichkeiten) bestraft werden, erteilt der über Jahrhunderte hart erkämpften Zivilisation eine Absage.
Die Priester hatten in der Geschichte auch das Monopol auf professionelle Seelsorge und Beistand. Inzwischen gibt es Anwälte, Ärzte, außerpriesterliche Seelsorger, Vertrauenspersonen, Lebensberater, und und und. Und all diese Einrichtungen haben eine gewisse Verschwiegenheitspflicht, die dem Beichtgeheimnis nahe- wenn nicht sogar gleichkommt. Die Gesellschaft (und nicht nur explizit verbrecherische Straftäter) hat eine Bedarf für solche Institutionen - auch wenn dadurch so manche an manches Ohr gelangte Information nicht sofort für Denunzierung frei gegeben wird.