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Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemitismus

  • Ersteller Ersteller medusa
  • Erstellt am Erstellt am
AW: Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemetismus

In Zvi Rudys Schrift "Soziologie des jüdischen Volkes" von 1965 wird der Antisemitismus aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt.
Es gebe ihn seit Beginn der Diaspora und der damit verbundenen Lebensweise innerhalb fremder Länder und Völker.
Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff erstmals 1879 von einem gewissen Heinrich Marr verwendet (deutscher Schauspieler etc. s. Wikipedia)
Zu Beginn des 20. Jhdts. wurde der Begriff in die Regierungsprogramme einiger Staaten aufgenommen, was zum Ziel hatte, systematisch den Einfluß des Judentums auf die Völker zu bekämpfen.
In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung und im Mittelalter - und noch in der neueren Zeit war der Antisemitismus vorwiegend religiös oder wirtschaftlich begründet. In blutigen Überfällen auf die ortsansässige jüdische Bevölkerung machte sich der kollektive Antagonismus von Zeit zu Zeit Luft.
Der Vernichtungsfeldzug der Naziherrschaft hatte eine ganz andere Herkunft in Form der NS Rassenideologie. Ein Vertreter der damaligen Elite, Graf Coudenhove-Kalergi( gründete 1947 die EPU= europäische Parlamentarier-Union), ein ehemaliger Antisemit sah - zusammen mit anderen Prominenten die Wurzel des Antisemitismus vor allem im religiösen Fanatismus sowohl der Juden, als auch der christlichen Völker.
Der jüdische Nationalismus (Zionismus) unter Theodor Herzl (Der Judenstaat) hält den Antisemitismus für eine unmittelbare Folge der anomalen Situation der Juden in den Ländern der Diaspora, wo sie als Volk ohne eigenes Land und ohne eigenes national-staatliches Leben "dahinvegetierten".-
Interessant die sozialistisch/marxistische Einstellung: in dieser empfand man den Antisemitismus als rein ökonomische Frage, die sich mit der Liquidierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gleichsam von selbst lösen werde.
Schließlich hat die Psychoanalyse den AS als Folge des Überwertigkeitskomplexes der Juden analysiert. Juden betrachteten sich von altersher als das auserwählte Volk und glaubten in selbstherrlicher Isolierung von den anderen Völkern verharren zu müssen.-

Reicht das zunächst als Erklärung ?
Perivisor


Anhand des hier gesammelten Materials könnte man ja mal die Vorwürfe der Grass-Kritiker beleuchten. Man wird nichts bei Grass finden, was auch nur einer einzigen Definition für Antisemitismus entspricht.-
Perivisor
 
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AW: Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemetismus


Funktionalisierter Antisemitismus ?



Robinato,
könntest du anhand eines Beispieles illustrieren,
was du mit "funktionalisiertem Antisemitismus" konkret meinst?

Mir ist vor allem nicht klar, was durch eine Umstellung der Suche
von den Wurzeln auf die Funktion gewonnen wird.

Meiner Meinung nach setzt ein Verständnis der Funktionalisierung
bereits die Kenntnis der vorhandenen Wurzeln (Klischees über Juden) voraus.


Das musste auch einmal in aller Klarheit gefragt werden.


P.S.: Möglicherweise deuten wir den Begriff "Wurzel" unterschiedlich.

Du als "historische Entwicklung", und ich als "zugrundeliegende Mechanismen".


Habe gerade eine lange Antwort verfasst, dann flutschte sie weg und ich war ausgelogged - ist das eine neue Sicherheitsfunktion, oder habe ich nur falsch bedient? :doof:
Jedenfalls bin ich jetzt entnervt und die Antwort muss bis morgen warten...schöne Sch...
 
AW: Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemetismus

Habe gerade eine lange Antwort verfasst, dann flutschte sie weg und ich war ausgelogged - ist das eine neue Sicherheitsfunktion, oder habe ich nur falsch bedient? :doof:
Jedenfalls bin ich jetzt entnervt und die Antwort muss bis morgen warten...schöne Sch...

Die Erde wird sich:ironie: wahrscheinlich auch ohne Ihre Antwort weiter :blume2: (= drehen) - und zwar sowohl um sich selbst als auch um die :blume2: (= Sonne) ...:lachen::lachen::lachen:
 
AW: Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemetismus


Funktionalisierter Antisemitismus ?



Robinato,
könntest du anhand eines Beispieles illustrieren,
was du mit "funktionalisiertem Antisemitismus" konkret meinst?

Mir ist vor allem nicht klar, was durch eine Umstellung der Suche
von den Wurzeln auf die Funktion gewonnen wird.

Meiner Meinung nach setzt ein Verständnis der Funktionalisierung
bereits die Kenntnis der vorhandenen Wurzeln (Klischees über Juden) voraus.




Moralische Kommunikation hat immer auch die Funktion, sich selbst auf die moralisch richtige Seite zu stellen. Diese tritt umso mehr hervor, wenn der eigentliche Gegenstand des Diskurses ("die Juden") kaum konkret vorhanden sind, sondern nur als ferne Institution (die israelische Regierung) oder abstrakter Begriff (das Judentum) einfließt. Je weiter weg und umso abstrakter, wird der Begriff frei, um mit Bedeutungen aufgeladen zu werden oder moralisch funktionalisiert zu werden. Der Begriff ähnelt dann einem Stein in einem Reversi-Spiel, der je nachdem auf die eine oder andere Seite gedreht wird, und dann der einen oder anderen Seite als moralischer Gewinn dient.
Ein weiteres Beispiel wäre "er macht es fürs Geld" als moralischer Vorwurf. Diese Floskel offenbart sofort, dass sie rein funktional ist, da praktisch jeder irgendetwas fürs Geld macht. Je wohlfeiler ein Begriff moralisch benutzt wird, desto stärker der Verdacht, dass es nur um die moralische Abgrenzung geht, und nicht um Sachverhalte.
Wenn man das Augenmerk auf die Funktion von Begriffen legt, hat man vielleicht eine Chance, dem moralischen Diskurs zu entkommen; denn wenn man den Reversi-Stein nur wieder umdreht ("kritikverbot an Israel ist antisemtisch"), bleibt man ja in dem Spiel drin.
An sich ist es sicher nicht falsch, nach Wurzeln von Begriffen und ihren historischen Umständen zu suchen; aber man muss wirklich schauen, ob man die Begriffe durchgehend aus heutiger Sicht einordnen kann. So hörte ich von einem Wissenschaftler, der die Islamophobie historisch untersuchte und nachweisen wollte, dass unsere Islamangst auf uralten islamfeindlichen Denkmustern beruhe. Hier wird jedoch sofort konnotiert, dass ein Großteil islamkritischer Menschen archaisch, primitiv und reflexhaft in seinen Urteilen ist. Ich bezweifle jedoch die Sinnhaftigkeit einer solchen Übertragung ins Heutige, außerdem ist sie spekulativ.
Beim Antisemitismus kommt hinzu, dass durch die Ermordung der Juden und die Gründung des Staates Israel, die Bedeutung heutigen Antisemitismus von der Bedeutung früherer Judenfeindlichkeit doch ziemlich abgeschnitten wurde.

Natürlich will ich die inhaltlichen Bemühungen zum Thema historischer Antisemitsismus hier nicht torpedieren!
 
AW: Auf der Suche nach den Wurzeln des Antisemetismus

funktionale Diskriminierung

Statistiker stellen fest, daß es in einem Bestandteil der Bevölkerung Auffälligkeiten gibt,
die es zu unterstützen oder zu unterbinden gilt

die Politik kann also aktiv werden
und eine Verordnung erlassen,
die dann aber auch diejenigen trifft,
die zu den Ausnahmen gehören

wenn nun die Gegner die Ausnahmen präsentieren
und mit dem Argument 'antisemitisch' die Diskussion totzuschlagen versuchen,
kann dieses böses Blut schaffen,
was wiederum den Gegnern als nachträgliche Bestätigung ihrer 'Antisemitismus-Theorie' dient
 

Funktionalisierter Antisemitismus ist ...

Robinato schrieb:
...
Wenn man das Augenmerk auf die Funktion von Begriffen legt,
hat man vielleicht eine Chance, dem moralischen Diskurs zu entkommen;

...

An sich ist es sicher nicht falsch, nach Wurzeln von Begriffen und ihren
historischen Umständen zu suchen; aber man muss wirklich schauen, ob man
die Begriffe durchgehend aus heutiger Sicht einordnen kann.

Robinato,
danke, möglicherweise habe ich jetzt verstanden, was du meinst. :)


Das musste auch einmal in aller Unklarheit gesagt werden.
 

Suche nach Wurzeln.

Perivisor schrieb:
Anhand des hier gesammelten Materials könnte man ja mal
die Vorwürfe der Grass-Kritiker beleuchten.
Man wird nichts bei Grass finden, was auch nur einer einzigen Definition
für Antisemitismus entspricht.

Perivisor,
medusa hat zwar die Reaktionen auf das Gedicht von Günter Grass zum Anlass
für eine Suche nach den Wurzeln des Antisemitismus genommen,
ich denke aber, dass unter Antisemitismus etwas ganz anderes zu verstehen ist,
als die eindringliche Warnung vor einem israelischen Angriff auf den Iran.

Die Wurzeln des Antisemitismus offenzulegen, kann mMn sicher nicht schaden;
vor allem nicht, wenn zwischen einem real existierenden Antisemitismus,
und hysterischem Antisemitismus-Geschrei unterschieden werden soll.

Hier wurden ja schon mehrere Versuche unternommen, einige Wurzeln des Antisemitismus
aufzuzeigen.

Ein sachlicher Diskurs über Antisemitismus wird mMn jedoch durch mindestens
zwei Faktoren stark behindert und erschwert. Der eine Faktor ist der schon
angesprochene inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfes,
und ein weiterer Faktor ist die unzureichende Unterscheidung zwischen Aussagen
über eine konkrete Einzelperson und soziologischen Aussagen über Personengruppen.


Der inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfes führt in letzter Konsequenz
zu einer Verwässerung und Verharmlosung des Antisemitismusbegriffes
(wenn rund 40-60 % der erwachsenen Bevölkerung als Antisemiten punziert werden,
dann kann A. ja wohl nichts wirklich Schlimmes sein). Offenbar laufen aber da draußen
in großer Zahl Leute mit partieller Kybernetikdrüseninsuffizienz herum, die hinter
jeder Hausecke und hinter jedem Hydranten einen gefährlichen Antisemiten lauern sehen.
Diese Leute machen de facto den Antisemitismus über die Hintertüre wieder salonfähig.


Die ungenügende oder gänzlich fehlende Unterscheidung zwischen Aussagen über eine
konkrete Einzelperson und soziologischen Aussagen über Personengruppen führt zu
Problemen, weil für Aussagen über konkrete Einzelpersonen andere Anforderungen gelten
als für Aussagen über Personengruppen.

Bei Aussagen/Urteilen über Einzelpersonen müssen Verallgemeinerungen oder
Pauschalisierungen vermieden werden.
Jedes Individuum hat einen Rechtsanspruch darauf,
ausschließlich auf der Basis des eigenen Verhaltens beurteilt zu werden.
Pauschalurteile wegen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Sippenhaftung oder
kollektive Schuldzuweisungen sind strikte zu vermeiden.

Bei soziologischen Aussagen über Personengruppen sind hingegen Verallgemeinerungen
nicht vermeidbar.
Da solche Aussagen statistischer Natur sind und die relative Häufigkeit
des Vorkommens von Individuen mit bestimmten Merkmalen zum Gegenstand haben,
sollten sie korrekterweise auch in statistischer Terminologie formuliert werden.

Unglücklicherweise werden statistische Aussagen häufig als sperrig und unhandlich
empfunden, sodass häufig zu verkürzten Formulierungen gegriffen wird.

Solange aus dem Kontext ohnehin klar erkennbar ist, dass es sich um eine
statistische Aussage handelt, kann das ja noch als unbedenklich gelten.
Wenn dann jedoch eine solche verkürzte Aussage aus dem Zusammenhang gerissen wird,
verleitet das zu problematischen Fehlinterpretationen.


Schauen wir uns das am Beispiel des weit verbreiteten Klischees über Juden an,
das da lautet: "Juden sind besonders geschäftstüchtig."

Eine korrekte statistische Formulierung müsste lauten:
"Die relative Häufigkeit von besonders geschäftstüchtigen Individuen
ist in der Gruppe der Juden signifikant höher als in der Gruppe der Nichtjuden"
(in Zahlen ausgedrückt könnte das beispielsweise heißen: 15% bei den Juden,
aber nur 10% bei den Nichtjuden).

Soferne die der Aussage zugrundeliegenden Zahlenwerte empirisch abgesichert sind,
ist die statistische Formulierung unbedenklich,
an der verkürzten Form ist jedoch der statistische Charakter nicht mehr erkennbar,
was zur Verwechslung mit einer Aussage über eine konkrete Einzelperson verleitet.


Analoge Verhältnisse liegen bei praktisch allen Klischees vor.

Als statistische Aussage begriffen, beschreiben sie,
soferne sie empirisch abgesichert sind,
einen Aspekt der Realität;

als All-Aussage missverstanden, sind sie schlicht und ergreifend unzutreffend.


Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.


 
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