Mal vorab: Es ist ein - wenn auch weit verbreiteter - Trugschluss, anzunehmen, man müsse ein Verfechter einer Lehre sein, um bestimmte Bücher zu lesen (oder es dadurch automatisch zu werden). Das Lesen der Bibel macht einen nicht zum gläubigen Christen, das des "Das Kapital" nicht zum Kommunisten und man wird nicht zum Erotomanen, nur weil man Casanovas Memoiren liest.
Ich finde aber, wenn man schon einer Lehre folgt und diese propagiert, dann sollte man deren Hauptwerke auch gelesen haben oder zumindest die wichtigsten Teile. Persönlich sind mir schon Menschen begegnet, die mir gegenüber flammende, ja teils aggressive Reden gehalten haben, mit Worten wie "Gottesfurcht" u.ä. - um dann zugeben zu müssen, die Bibel nie gelesen zu haben. Eine mehr katholische Position: Sie glauben und vertreten das, was ihnen ihre Pfaffen und andere vorblasen, ohne das Hauptwerk, die Bibel selbst, je gelesen zu haben.
Ich habe die Bibel gelesen, mehr oder weniger komplett, für mich weniger interessante Teile aber ausgelassen (Psalmen, Sprüche). Im Grunde das, was man als Protestant zu tun hat: Die Bibel selbst lesen, und sich seine eigene Meinung bilden. Der Grund im Übrigen für die zivilisatorisch maßgeblichen Anstrengungen der Protestanten zur allgemeinen Alphabetisierung am Ende des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Am Ende der Lektüre der Bibel stellt man fest, dass so manches, was man ihr meint finden zu müssen, gar nicht darin steht. Die Heiligen Drei Könige sind keine Könige, sondern "Sterndeuter" (wörtlich Magoi, "Magier") und über ihre Anzahl wird uns genauso wenig berichtet, wie über ihre Namen oder Ethnien. Maria bleibt eine blasse Figur, die außer in der Weihnachtsgeschichte praktisch unerwähnt bleibt. Die gar nicht an Weihnachten stattgefunden haben kann, denn dann wären die Hirten nicht mit ihren Tieren über Nacht draußen gewesen (zu kalt, auch in Israel).
Jesus wird in den Evangelien nicht als der Sohn Gottes bezeichnet, er selbst bezeichnet sich als der "Menschensohn".
Und auch manches, was the good guy Jesus so anstellt, das würde man heute anders interpretieren. Aber es soll ja auch heute noch Menschen geben, die die Epilepsie für eine Besessenheit von Dämonen halten.
Das Alte Testament ist gleich ganz brutal: Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung, über das ganze AT hinweg. Der gottesfürchtige Lot begeht Inzest mit seinen Töchtern. Hin und wieder Lichtblicke: Es werden hehre Gesetze aufgestellt ... dann wieder über viele Seiten die blanke Barbarei, ganze Völker werden abgeschlachtet, Frauen, Kinder, sogar das Vieh. Dann erinnert sich mal wieder einer "hat nicht Prophet XY gesagt, dass wir ..." und alle nicken brav mit ihren Köpfchen. Eine Seite Friede, Freude, Eierkuchen ... dann wieder viele Seiten Mord, Totschlag und Verstümmelung, inklusive von Leichen. usw. usf.
Gottseidank gibt es auch entschärfte Versionen für Kinder, denn im Original kann man das AT Kindern nicht vorlesen, heutzutage jedenfalls wohl nicht mehr.
Man mag meinen: Ohne einen gewissen intellektuellen und historischen Abstand wird man durch die Bibellektüre nicht nur kein Christ, man bleibt auch keiner. Wirklich interessant wird es jedoch, zieht man einmal historisches Wissen der Zeit zu Rate. Vor Jahren schmökerte ich mal in "Herders neuer Bibelatlas", einem umfangreichen, historischen und kulturhistorischen Werk zur Bibel. Es erschließt sich einem dadurch ein oft ganz anderes Verständnis biblischer Texte, und keineswegs immer die schmeichelhaftesten.