„Was ist wirklich abgelaufen? Frauen, die ihre Jungfernschaft bewahren, haben über ein paar Jahrhunderte europäischer Geschichte eben dadurch Aussichten auf einen ehelichen Versorger. Dieser benötigt eine eindeutige Beziehung zum Erbsohn und deshalb die Garantie, dass der einzige Sexualpartner seiner Gattin er selbst ist. Das weibliche Geschlecht muss sich Sexualunterdrückung gefallen lassen, aber im Gegenzug gibt es – ungeachtet der Vertragsunmündigkeit – einen Status als versorgte Ehefrau.
Der Kontrakt "züchtige Hausfrau" gegen Versorgung unterminiert schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Transformation des europäischen Arbeitslebens in eine mehrheitlich von Lohnabhängigen bestimmte Welt. Diese haben kein Eigentum bzw. keine eigene Wirtschaft, die ihnen im Erbkontrakt mit dem übernehmenden Sohn Alters- und Krankheitsversorgung einträgt. Rein "ökonomisch" verliert diese zur Mehrheit werdende Schicht das Motiv zur Fortpflanzung, die sich nun in eine bloß noch emotionale und biographische Option verwandelt. Entsprechend beginnt gegen 1875 in Europa der moderne Geburtenrückgang. Da auch bei „nur“ drei oder vier, statt bisher sechs oder acht Kindern pro Mutter eine Bevölkerung weiter kräftig zunimmt, bedarf es gegen 1900 eines regelrechten Entdeckers (Wolf, 1931, 61), um das Phänomen ins öffentliche Bewusstsein zu heben, indem es bis heute eine gänzlich ungebrochene Rolle spielt.
Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigen Untersuchungen, dass zunächst die höheren Angestellten nach einer Partnerin suchen, die bereit ist, selbst zu verdienen und bei der Fortpflanzung in der Tendenz gegen Null zu gehen. Da diese Berufsgruppe um die attraktivsten Arbeitsplätze kämpft, versuchen ihre Mitglieder sich dadurch Konkurrenzvorteile zu verschaffen, dass sie Zeit, Energie und Geld nicht für Familien, sondern für Qualifikation einsetzen. In dem Maße in dem diese Gruppe wächst, nimmt die Zahl männlicher Versorgungsangebote an potenzielle Ehefrauen ab. Wollen diese Frauen gleichwohl überleben, müssen sie selbst erwerbstätig werden können, also Arbeits-, Miet- und Kaufverträge abschließen dürfen. Dafür ist die Gleichberechtigung zu erkämpfen. Sie besagt nichts anderes, als dass Frauen dieselbe Vertragsmündigkeit gewinnen wie Männer. Dieser Prozess wird in der Ersten Welt noch im 20. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen.
Seitdem entwickeln Frauen zunehmend dasselbe Verhaltensmuster wie Männer. Um Konkurrenten – jetzt beiderlei Geschlechts – für attraktivere Karrieren ausstechen zu können, suchen sie eher bestmögliche Qualifikationen als eheliche Versorger. Dieser Kampf um materielle Gleichberechtigung – begonnen von den sozial ranghöheren Frauen – ist ungebrochen im Gange. Von 1875 (Deutsches Reich) bis 1975 (Westdeutschland) sacken die Geburtenzahlen pro 1000 Einwohner von 40 auf 8 herunter. (...) Der überkommene weibliche Verzicht auf voreheliche Sexualität wird mit dem Entfallen männlicher Versorgungsangebote hinfällig. Für eine Jungfernhaut bietet kaum noch jemand etwas. Also rebellieren die Mädchen gegen die herkömmlich Sexualerziehung und die Jungen profitieren ebenfalls davon. Das gegenwärtige Paradox, von den reichsten Territorien der Erde, die nicht imstande sind, sich aus eigener Fortpflanzung zu reproduzieren, löst sich also darin auf, dass Erwerbsquoten von Männern und Frauen von über 80 Prozent zwar den Reichtum steigern, aber die Verausgabung gerade der konkurrenztüchtigsten Lebensjahre für Vermehrung und Erziehung so gut wie unmöglich machen.“
(Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, 2003, Orell-Füssli, S.44ff)