AW: Soll oder muss der Mensch Objektivität anstreben
Ich bemerke schon seit längerer Zeit, dass man sich zu einer objektiven Betrachtungsweise nicht bekennen will. Ja, man meint sogar, dass es Objektivität gar nicht gäbe, also alles wäre subjektiv.
Eine berechtigte, ja, notwendige Frage, die im Keime ein ethisches Prinzip in sich trägt, denn innerhalb dieser Fragestellung schlummert der Toleranzgedanke. Während der größte Teil der Menschheit an unumstößliche Wahrheiten glaubt, die also rein objektiv zu bewerten seien, bleibt das Subjektive privat und wird bespöttelt.
Was wir Objektivität nennen, ist ein Sammelsurium gleicher oder gleichartiger subjektiver Anschauungen. Eine hohe Dichte an gleichgearteten Sichtweisen subjektiven Charakters, nennen wir objektiv. Jede Erkenntnis aber wird durch das Subjekt erzielt, der Einzelne ist Basis des Erkennens.
Betrachten wir einen roten Apfel, so wird das Rote erst dann zur allgemeingeltenden Gewißheit, wenn mehrere subjektive Blicke dies bestätigen. Zwar mögen verschiedene Individuen das Rote anders interpretieren, als Rötliches oder gar als einen gänzlich anderen Farbton, doch steht eine Mehrheit zum Roten, so spricht man gemeinhin von Objektivität.
Objektivität ist also keine unumstößliche Erkenntnis oder gar Wahrheit, sondern ein pluralistisches Gebilde. Das Votum vieler Subjektivmeinungen bildet ein Objektives. Erscheinen dann an den Rändern des Objektiven andere Sichtweisen, wertet man dies als abweichende, eben subjektive Interpretationen eines Sachverhalts.
Da dem Objektiven also ein stiller und unbewußter Konsens vorausgeht, darf es nicht als Erkenntnis a priori betrachtet werden, welche nur noch zu erzielen sei, aber ohne Menschenwissen schon immer Gültigkeit hatte. Selbst Unumstößliches, wie der tägliche Sonnenaufgang, ist nicht objektiv faßbar, sondern - hier an David Hume erinnernd - Wissen, welches durch subjektive Erfahrung und Gewohnheit in sich gefestigt wurde.
Die Erkenntnis, wonach Objektivität nur eine "Union des gleichgerichteten Subjektiven" sei, birgt den Toleranzgedanken in sich. Wo erkannt wird, daß nichts absolut wahr, vorbehaltslos wirklich ist, dort wird der Ansicht des Einzelnen Respekt gezollt; dort maßt man sich nicht an, eine geoffenbarte Weisheit verkünden zu müssen, die jeden Abweichler auf Linie zu bringen hat.
Gegensätzlich verängstigter Meinung, ein Mangel an wahrhafter Objektivität sei ein Trauerspiel, damit die Erklärung der Welt eine Unmöglichkeit, stellt der Zustand der "unierten Subjektivität" zu einem dialektischen Höheren eine Chance dar. Diese Einsicht erlaubt uns, vorurteilsfrei an Bewertungen heranzugehen, ein vernünftiges Maß Toleranz zu verwirklichen. Keine wirklichen Wahrheiten benennen zu können ist kein Makel, auch wenn es aus dem wissenschaftlichen Lager einem Fiasko gleichkommt.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: Da jede Erkenntnis auf Subjektivität basiert, da die oben dargelegte Ansicht zum Subjekt-Objekt ebenso subjektiv gefärbt ist, kann diese gleichermaßen pluralistisch abgesegnet werden oder eben nicht. In konsequenter Haltung sind also die obigen Zeilen nicht als Weisheit letzter Schluß zu sehen, sondern als mögliche Option, sich einer Antwort zu nähern. Und dennoch bleibt dies, wie jedes Gedankenkonstrukt, ein Gebilde menschlicher, subjektiver Konklusion.