Gysi schrieb:
Du siehst keine Gefahren, malst alles mit dem Weichzeichner - und dein dürftiges Zukunftskonzept der offenen Grenzen für alle, das würdest du gerne durchgesetzt wollen. Gottseidank steht die Mehrheit der Deutschen dagegen. Die Mehrheit der Europäer auch.
Es erstaunt mich schon sehr, dass ich derjenige sein soll, der alles mit dem „Weichzeichner“ malt. Ich alter Waschlappen! Im Gegenteil, ich male gerne und ausgiebig die Konturen der Positionen nach, die sich selbst gerne in warmen und weichen Tönen zeichnen, um andere dafür umso grober zu besudeln. Dass wir eine „Leitkultur“ brauchen, darüber sind wir uns leider nicht einig. Wir brauchen Verhältnisse, die das „Leitbild“, welches der eine aufstellt, um die Verhältnisse des anderen festzulegen, überflüssig machen. Ich stehe übrigens für kein „Zukunftskonzept der offenen Grenzen“ ein, viel eher sollte man überprüfen, warum einige das Gefühl haben, ihre Grenzen schliessen zu müssen, warum einige Personen innerhalb dieser Grenzen willkommen sind, andere hingegen nicht. Wer mit wem auf dieser Welt Handel treibt und profitiert, wer Standortvorteile geschickt ausnutzt, mit supranationalen Instrumenten dafür sorgt, dass diese ‚Vorteile’ konserviert werden, jedoch nur die positiven Konsequenzen seines Profits akzeptieren möchte und es so vielleicht auch nötig hat, die Grenzen zu schliessen? Was es überhaupt heisst, zu profitieren und Gebiete abzuriegeln, was es heisst, sozusagen gezwungenermassen reservierte Gebiete nötig zu haben, um dennoch unglücklich zu sein? Welche Interessen und Vorstellungen spielen da wohl mit? Es sind einige Fragen, die ich da aufgeworfen habe und man darf sie nicht ausser acht lassen, redet man von Produktion und Kapital (siehe unten, siehe auch die Zitate von mahavo).
Gysi schrieb:
Aber zum produktiven Eingehen in die EU braucht es mehr als 15 Jahre.
Gysi schrieb:
Was meine ich denn mit "Kultur"? Etwas, was uns bindet und binden kann: Der Respekt vor den Menschen, vor den Freiheitsrechten, auch den Freiheitsrechten der Frauen. Bildung auch. Die Fähigkeit, muli-kulturell zu leben. Hat eine (wirklich) gläubiger Muslim nicht...
Der „(wirklich) gläubige Muslim“, ein bedauernswertes Geschöpf… Nicht nur, dass der Koran unterschiedlich ausgelegt wird, viel schlimmer: man wird sich auch in der islamischen Welt um die „richtige“ Auslegung streiten. Wer legt z.B. die Symptome, die mahavo so gerne mit dem Gestus des „Objektiven“ (ich habe mich diesbezüglich bereits zum Thema „Statistik“ geäussert) aufzuzählen beliebt, richtig aus? Die Exegese von Texten, Zahlen und anderen Geschichten ist ein schönes Geschäft, doch stört mich ein wenig, dass häufig vergessen wird, dass es sich um Interpretationen handelt, die auf gewissen Voraussetzungen beruhen. Ich suche z.B. in den obigen Zeilen vergeblich nach dem „Respekt“, der von den anderen verlangt wird. Natürlich sehe ich ein, dass Frauen in islamischen Ländern benachteiligt werden, nur darf man nicht vergessen, dass das auch in unseren Gefilden der Fall ist. Wenn auch
de jure gleichgestellt, so sind wir
de facto von der Gleichstellung von Mann und Frau meilenweit entfernt. Ob eine „(wirklich) gläubige Muslimin“ somit ein unglücklicheres Leben führt als eine „(wirkliche) Durchschnittschristin“ – was auch immer das sein soll – mag ich stark bezweifeln. Das ist es eben, was ich unter „Weichzeichnung der eigenen Position“ verstehe, die ich im 3. Satz des jetzigen Beitrags angesprochen habe.
mavaho schrieb:
Was mich bei dieser Diskussion stört, ist das emotionale Wortgeklingel auf konkrete Vorhaltungen. Es geht ncht darum, wer wo Urlaub macht oder diesen oder jenen Netten kennt, es geht auch nicht um Leitkultur.
Doch, doch, es geht um „Leitkultur“. Es geht um die voreingenommene Sichtweise des „weissen, fleischessenden, euro-phallogozentrischen Durchschnittsmannes“ (entschuldigt diese Hyperbel, aber ich konnte nicht widerstehen).
mavaho schrieb:
Ich halte den Versuch, die Gegner auf diese Argumentationsschiene zu setzen, für ein plumpes Ablenkungsmanöver, um von den konkreten Problem abzulenken. Es geht um den Beitritt eines Landes in die EU, dessen innere Verhältnisse und wirtschaftlichen Fakten bekannt sind. Nur diese sind zu beurteilen. Dabei kann man das Verhalten der hier seit Jahrzehnten lebenden Türken als Erfahrungswert heranziehen.
Genau jener – ich wiederhole das Wortungetüm nicht – meint nämlich, dass er allein befähigt sei, die „konkreten Probleme“ zu definieren. Doch seine Sichtweise könnte man als eine Apologie dessen betrachten, an dem das eigene, das er einzugrenzen versucht, um das andere möglichst daraus fernzuhalten, krankt (das habe ich in meinem ersten Beitrag zu diesem Thema beschrieben). Was sind die „wirtschaftlichen Fakten“ der „Türkei“? Kann man ein Land vom Rest der Welt isolieren, um seine wirtschaftliche Lage zu beurteilen? Kein Land ist auf den Binnenhandel beschränkt und falls dies der Fall wäre, so würde sich dennoch das zeigen, vor dem man die Augen nicht verschlossen haben sollte, nämlich dass in einer Gemeinschaft ihre Mitglieder nie mit gleich langen Spiessen fechten (weder in der Türkei, in Deutschland noch in einer Idee „Europa“ überhaupt – was auch immer dazugehört und was nicht).
mavaho schrieb:
1. Steuererhöhungen, denn der Beitritt ist ohne diese nicht finanzierbar.
2. Mitsprache eines Islamfundis bei der Zukunftsgestaltung unseres Landes.
Die Punkte liessen sich fortsetzen.
Steuern – es wird sie immer geben, solange es einen Staat gibt. Die Frage ist nur, wen die Erhöhung trifft. Dass es wahrscheinlich die trifft, die es kaum verkraften können, das ist eine Ungerechtigkeit, die ich bedenklich finde. Es gilt aber, sich gegen solche Ungerechtigkeiten zu wehren – v.a. könnte man das von Leuten erwarten, die sich bestimmt als „verantwortungsbewusste Bürger“ verstehen, die noch vor den „Islamfundis“ bei der Gestaltung eines Landes mitreden möchten. Ausserdem tritt hier dasselbe Problem auf wie bei der Debatte um die „NPD-Leute“. Wieso gibt es so viele „Islamfundis“? Hat Allah diese vom Himmel regnen lassen?
mavaho schrieb:
Völlig vergessen wurde, dass die Türkei immer noch den Teil eines anderes Natolandes völkerrechtswidrig besetzt hält. Das Zypernproblem ist immer noch ungelöst.
Ja, da stimme ich zu. Doch hier sollte man sich die Frage stellen, was „Völkerrecht“ bedeutet? Wer festlegt, was das „Völkerrecht“ ist… Was nicht „völkerrechtswidrig“ ist oder wer das „Völkerrecht“ ungestraft verletzen oder missbrauchen darf? Ich finde, dass sich diejenigen, die sich in gegebenen Situationen auf dieses „Recht“ berufen, sich in den letzten Jahren grosser Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Dazu gehört nicht nur die Führung irgendwelcher Kriege mit Bomben etc., dazu gehört auch der Wirtschaftskrieg eines dominanten Teils der Welt gegen den anderen. Eine völlig „subjektive“ Anekdote, so à la „Ich trinke Tee bei Türken“ (zählt deswegen wohl nicht als Argument, v.a. da es sich auf den ersten Blick nicht auf die Türkei bezieht): Ich habe einige Jahre meines Lebens in Afrika verbracht und Übles gesehen und erfahren. Man sollte sich genau ansehen, was die „1. Welt“ dort tagtäglich anrichtet und sich ereignen lässt, bevor man sich entschliesst, lauthals die Schliessung von Grenzen zu fordern...