Vielleicht braucht dein Gegenüber auch eine lebendige Predigt?
Der Pfarrer wollte wissen, wie Jens zum Glauben gekommen ist. Der alte Fischer liess seine leuchtenden Augen auf dem Pfarrer ruhen und sagte nichts. Es schien, als ob seine Augen den Pfarrer gar nicht sähen, sondern irgend etwas in weiter Ferne. Sein Geist beschäftigte sich offenbar mit glücklichen Erinnerungen.
«Es ist wohl schon lange her?»
«Ja, es ist lange her, ungefähr vor dreissig Jahren.»
«Wie geschah es?»
«Auf wunderbare Weise; es kam durch eine Predigt.»
«Durch eine Predigt? - Das war ja ein natürlicher Vorgang. Wo hörtest du denn die Predigt?»
«Ich hörte sie nicht - ich sah sie.»
«Du sahst sie?»
«Ja, ich sah sie täglich, ich lebte mit ihr zusammen. Gehört habe ich so viele, aber um die kümmerte ich mich wenig. Aber die Predigten, mit denen man zusammenlebt, die taugen.»
«Was war denn das für eine Predigt, mit der du zusammenlebtest?»
«Es war meine tote Frau.»
«Man kann doch nicht mit einer Toten zusammenleben!»
«Doch das kann man. Gott kann es machen.»
«Erzähl mir das näher!»
«Maren und ich hatten das gleiche Temperament. Wir waren beide Hitzköpfe und gerieten oft aneinander. Dann hat sie sich bekehrt. Jedenfalls behauptete sie es. Aber ich spürte nicht viel davon. Ein wenig nur in der ersten Zeit. Bald war alles wieder ungefähr beim alten. Sie ging allerdings in den Gottesdienst, las in der Bibel und betete.
Ausserdem predigte sie mir wegen meiner Gottlosigkeit. Sie sagte, dass ich mich bekehren müsse. Manchmal weinte sie auch, um mich damit zur Bekehrung zu bewegen. Ihre Gesinnung aber hatte sich eigentlich nicht geändert. Wir hatten wie früher schwere Zusammenstösse. Ich reizte sie mit allen Kräften, denn ihr scheinheiliges Wesen war mir zuwider. Das konnte ihr Christentum nicht ertragen. Nur ein paar Worte und schon hatten wir Krieg. Nacher konnte sie wohl Tränen vergies-sen, aber ihre Tränen machten mir keinen Eindruck.
«Willst du dich denn nie bekehren?» fragte sie eines Tages, als sie aus einer Versammlung kam. «Wozu mich bekehren?» fragte ich erbost. «Zu einem neuen Leben.» «Hast du denn ein neues Leben?» «Ja, das glaube ich, doch in aller Schwachheit. Du solltest nicht auf uns sehen, denn wir sind schwache Menschen. Du sollst auf Gott sehen.» «Gott kann ich nicht sehen, aber dich kann ich sehen.»
Eines Abends kam sie von einer Versammlung und ihr Gesicht war weiss wie die Wand. Ich erschrak. Sie sagte kein Wort. Mehrere Tage ging sie still umher. Ich fürchtete um ihren Verstand. Eines Tages, als ich beim Netze ausbessern war, kam sie zu mir und setzte sich neben mich. Ihre Augen leuchteten mit so wunderbarem Glanz, dass ich es nicht ertragen konnte, sie anzusehen. Sie fasste meine Hand und sagte: «Jens, ich habe Gott um Verzeihung gebeten, weil ich seinem Namen Schande gemacht habe. Ich habe mich heilig genannt, aber es war so wenig Heiliges an mir.» Dies war für mich die grösste Qual. Hätte sie mit mir geschimpft, hätte ich es leichter ertragen. Von diesem Tage an war meine Frau gestorben, der Sünde gestorben.
«Sie verstehen doch, Herr Pfarrer?» «Ja gewiss, aber wurde sie denn nie wieder zornig?» «Ich merkte wohl, besonders zu Anfang, dass es in ihrem Herzen noch Kämpfe gab. Ich tat, was ich konnte, um sie zu reizen. Aber es war eine Kraft über sie gekommen; ein Geist, von dem ich früher nichts spürte. Es war, als wäre sie von einer himmlischen Macht geborgen, wie mit einem Panzer umgeben. Meine Bosheit vermochte ihn nicht zu durchdringen. Es war für meine böse Natur schwer, täglich in ein Antlitz zu sehen, das göttlichen Frieden und himmlische Freude ausstrahlte.
Ich wurde immer schlechter, aber das schien sie nicht anzufechten. Schliesslich kam es so weit, dass ich sie zu hassen begann. Ich hasste den Gott, der in ihr wohnte, denn dieser verurteilte mich. Das war jetzt Christentum, das ich begreifen konnte. Sie brauchte nicht mehr zu predigen, denn sie selbst war eine Predigt. Mehrere Jahre lebte ich mit dieser lebendigen Predigt zusammen, und die Predigt wurde immer schöner. Zuletzt wurde sie mir zu mächtig - ich musste mich bekehren.»