Geschehen, Handeln, Denken, Erkenntnis
holden schrieb:
Mir fällt es schwer, mir unter der apriorischen Erkenntnis etwas vorzustellen: geht nicht jeder Erkenntnis Erfahrung voraus? Ist nicht alles, was ich kann und weiß, durch Erfahrung bedingt?
Bester Holden!
Da hast Du dir wirklich eine der schwierigsten Fragen zum Einstieg ausgesucht! Kein Wunder, dass Philosophie hier etwas kantig wirkt!
Versuchen wir zunächst zu differenzieren in den verschiedenen möglichen Graden der Bewußthaftigkeit, so kommen wir vom Präinstinktiven, sive Determinierten, über das Instinktive, das Intuitive, das basal Emotionale und das sozial Emotionale schließlich zum Intelektuellen, dem klar Bewußten.
Je weiter wir auf dieser Skala nach rechts schreiten desto weiter entfernen wir uns dem Regenwurm, dem rein Determinierten, der nicht einmal Instinkt besitzt, und kommen auf der höchsten Stufe zum Menschen, als einziges Wesen mit der Fähigkeit versehen, Erinnerungen aktiv hevorholen zu können, ohne dass ein tatsächliches Ereignis sie notwendig zu stimulieren hätte. Das heißt, in der Fähigkeit einen Gedanken verfolgen zu können, ohne dass dessen Gehalt Kongruenz zur momentanen realen Ereigniswelt haben müßte liegt die Qualität abstrakten Denkens, das nur dem Menschen eigen ist.
Hierin liegt die Voraussetzung für Erkenntnis per se.
Nun ist es aber nicht so, dass in Erkenntnis keine Determinanten eingingen!
Betrachten wir also des weiteren das Geschehen in seinen verschiedenen Qualitäten.
Auch hier gibt es Determiniertes. Die Galaxien des Universums bilden Spiralhaufen, die Planeten umkreisen ihre Sonnen, die Trabanten wieder ihre Planeten, ohne dass für dieses permanente Geschehen anderer Antrieb nötig wäre als der, der in den Naturgesetzen zu beschreiben ist.
Es bedarf keines Zutuns, dass sich dies ohne Ende fortsetzt. Und es ist unveränderbar, festgelegt in seinen Abläufen, nicht gestaltbar.
Auch Lebewesen weisen determiniertes Handeln auf, der schon erwähnte Regenwurm, das Wachstum, Werden und Vergehen von Pflanzen, nur abhängig von chemischen, physikalischen oder biologischen Determinanten.
Hier ist kein Umgebungsreiz, keine Erfahrung nötig, dass eine Bewegung, eine Entwicklung stattfände, sondern nur die Erfüllung bestimmter Umgebungsbedingungen. Determiniert, vorgegeben. Warum dies trotzdem eine weite Varianz des Ergebnis gestattet haben die Chaos-Theoretiker erfassend erklärt.
Im Instinktiven begegnet uns ein Geschehen, das von einem Ereignis in der unmittelbaren Umgebung des instinktiv handelnden Wesens abhängig ist. Jedoch ist hier kein Denkprozeß erforderlich. Das instinktive Handeln hat einzig den Zweck, die Bedingungen für das handelnde Wesen in einen Idealzustand zu führen, indem es selbst Einfluß nimmt. Diese Einflüße im Handeln sind stereotyp und nicht gestaltungsfähig. Sie sind reaktiv, nicht initiativ.
Intuitives und Emotionales sind von ihrem Wesen her nicht reflektiert, aber während des Geschehens verfolgt das handelnde Wesen wachen Bewußtseins permanent, man würde heute sagen: im real time-Modus, die Einflüße auf seine Umgebung, die es nimmt, und passt sein Verhalten intuitiv oder emotional den sich verändernden Bedingungen an. Gezielt, aber nicht reflektiert, geschweige geplant lautet hier die Zusammenfassung.
Gezielt ist einzig das reflektierte Handeln. Ein Wesen hat eine Absicht und legt sich einen Plan, wie diese umzusetzen sei. Intelligentes -einsichtiges- Verhalten.
Alles miteinander führt zum Weltgeschehen, in dem wir alle stehen, sein quantitativ geringster Teil gestaltet durch menschliches Handeln. Dieser geringste Teil ist uns jedoch qualitativ der bedeutendste, ist es doch der der sich unserer Einflußnahme öffnet.
In unserer Umgebung gibt es also Geschehen, das wir als nicht gestaltbar wahrnehmen (Wind und Wetter) und wiederum solches, das unserer unmittelbaren Gestaltungskraft unterliegt (Was wollen wir zu Weihnachten abends essen?). Erstes hat seine Gestalt aus dem Zusammenwirkung von Determinanten, zweites ist aus dem handelnden Denken gestaltet.
Damit kommen wir so langsam in die Zielkurve:
Was ist zur Erkenntnis nötig?
Erstens Bewußtsein, zweitens Wahrnehmung. Nichts weiter!
Erkenntnis beschreibt als Begriff das denkende Durchdringen von Geschehendem. Handeln wird erst mögliche Folge von Erkenntnis sein (wobei nichts zu tun aus philosophischer Sicht ebenfals eine Form des Handelns ist, nämlich der aktive Verzicht aufs Handeln!).
Erkenntnis a priori ist also möglich für alles, das sich der Gestaltbarkeit entzieht.
Ist doch eigentlich ganz einfach! Oder?