AW: Kann der Mensch Objektivität anstreben?
Was ich vorhin zum Ausdruck bringen wollte, war das Problem der Objektivität nicht bloß im Lichte gewohnt naturwissenschaftlich-reduktionistischer Anschauung zu beleuchten, die den Menschen als rein materielles durch physische und physiologische Gegebenheiten begrenztes Wesen darstellt. Man denke bloß an das, was buddhistische Gelehrte als "Erleuchtung" bezeichnen, einen Zustand, welchen man getrost als "reine Objektivität", als "Verbundenheit des Einzelnen mit dem Ganzen" oder wie auch immer definieren kann.
Karl Popper ... zufolge sei die Verifikation von wissenschaftlichen Hypothesen durch deren Falsifikation zu ersetzen. Seine Überlegungen verlangen, ...dass ein konkreter Fall zu finden sei, der dieser widerspricht. ... je länger diese Falsifikation nicht gelinge, desto größer werde die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Theorie brauchbar sei.
Ob die Idee der Annäherung an die Wahrheit auch deren Erkenntnis involviert, ist fraglich. Sie hilft uns jedenfalls ...zu größeren Möglichkeiten zu gelangen, man denke nur an den technischen Fortschritt, usw.
Für mich ist das Problem der Objektivität nicht ein materielles, sondern eines, was den ganzen Menschen betrifft in allen seinen Aktivitäten. Es genügt ja schon, zwei Menschen die gemeinsam der 'gleichen' Situation ausgesetzt waren, hinterher dieses Erlebnis erzählen zu lassen, um festzustellen, dass sie verschiedenes erlebt haben und sogar unterschiedliches erfahren haben.
Das von dir erwähnte Beispiel meditativer Erleuchtung erfolgt ja keineswegs ohne gleichzeitige physiologische Aktivitäten. Alles Erleben, das ein Mensch - und ich denke bei anderen Lebewesen ist es ähnlich - im Laufe seines Lebens erlebt, hinterlässt nicht nur Spuren in seinem Inneren, sondern auch in seiner Physis. Dies lässt sich durch neurophysiologische und biologische Forschungsergebnisse belegen. Nichts was im Inneren eines Menschen vor sich geht, geschieht ohne körperliche Aktivität. Nur wir kriegen es nicht mit. Vor allem in der Meditation nicht, wo der Mensch sich auf "Erleuchtung" konzentriert. Messbares aber gibt es da schon, wie z.B. auch schon in der Traumforschung sich ergeben hat. Auch Menschen, die sich nicht an ihre Träume erinnern, zeigen messbare physiologische Aktivitäten, die die Schlussfolgerung zutreffend erscheinen lassen, dass auch sie träumen.
Auch die Zuverlässigkeit unserer Erinnerung ist nicht objektiv zu nennen. Wie oft nicht täuscht sie uns?
Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass wir einen unmittelbaren Zugang zur Objektivität haben. In diesem Zusammenhang ist dein Hinweis auf "brauchbare" Aussagen m.E.sehr wertvoll; denn wenn wir aus ganz menschlichen Gründen auf Objektivität verzichten müssen, um uns mit dem befassen zu können, was wir gemeinsam mit unserer je eigenen Subjektivität zu leisten in der Lage sind, dann bleibt uns die umfangreiche Aufgabe "alles Mögliche" zu erforschen, zu leben, zu denken und unsere Theorien, die wir dafür brauchen, darauf hin zu überprüfen, was sie gangbar machen können.
Das Streben nach Objektivität führt m.E. eher dazu, dass Möglichkeiten übersehen werden oder gar Hinweise auf andere Möglichkeiten für unwahrscheinlich gehalten werden, weil tradierte Forschungstheorien ja häufig schon ihre Tauglichkeit unter Beweis gestellt haben und man ja mit ihnen glaubte, der Wahrheit ein Stück näher gekommen zu sein. Als eines unter vielen Beispielen kann hier der Streit um die Entstehung von TBC zwischen Vierchow und Robert Koch genannt werden. Vierchow, eine Kapazität, war sich auf Grund seiner bisherigen Forschungen und Theorien sicher den Weg zu den einzig möglichen Ursachen dieser Erkrankung zu beschreiten und hielt Kochs Ideen für reinen Unsinn. Ich denke, es ist dem unermüdlichen Lerneifer vieler zu verdanken, dass die Wissenschaft Fortschritte macht und nicht dem Streben nach Objektivität. Das liegt m.E. nach im Charakter dieses Strebens: Es will sein Ziel erreichen, da können all zu viele Möglichkeiten - zumal wenn nichts oder nicht viel für sie im Moment spricht - eher ein Hindernis sein.
Mancher wissenschaftliche Streit - und nicht nur dieser - der mit der Fahne des Rechthabens in der einen Hand geführt wird, lässt die andere frei um mit erhobenen Zeigefinger oder gar geballter Faust den anderen am Weiterverfolgen anderer möglichen Wege zu hindern und ihm so den scheinbar 'richtigen' Weg zu weisen, den es nach Lage der Dinge nicht geben kann. Was wir finden sind Wahrscheinlichkeiten, zeitweilig Zutreffendes, das immer weiter differenziert und damit verändert wird. Und manchmal sogar wird ganz Neues festgestellt, dass Vergangenes wie Unsinn aussehen lässt. Doch das scheint vielleicht nur so.
gruß manni