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Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Ok, philohof, ich fasse es nochmal zusammen, gestern war ich einfach nur platt, als ich gelesen habe, wie du meine Beiträge siehst und etwas wütend!

Wenn du sagst, dass die Gesellschaft mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder, stimme ich dir zu!
Wenn du sagst, dass viele Menschen, die sich zusammenschließen, mehr erreichen, als wenn jeder nur einzeln für sich selbst arbeitet, stimme ich dir zu!
Wenn du sagst, dass es in einer Gesellschaft Schichten, Strukturen und Strömungen gibt, der jeweils eine Anzahl von Menschen angehören, stimme ich dir zu!
Aber wenn du sagst, dass es eine Gesellschaft OHNE Menschen gibt und dass Mensch kein Mensch mehr ist, sobald er seinen Beruf oder Job ausübt, dann hört es definitiv bei mir auf!
Wäre die Gesellschaft wirkliich von den einzelnen Menschen unabhängig, die sie bilden, würde sie weiterbestehen, auch wenn ihre Mitglider plötzlich verschwinden würden. Dass das nicht der Fall ist, kannst du, wenn schon nicht logisch, dann doch über das Studium der Geschichte erkennen!
Die Gesellschaft wandelt sich immer, ständig - sie ist heute anders als vor 50 Jahren und vor 50 Jahren war sie anders als vor 100 usw. Sie wandelt sich, weil die Menschen etwas beitragen, Ereignisse, neue Möglichkeiten, neue Ideen usw. und nicht, weil sich allle wie ein Rädchen im Getriebe verhalten. In dem Fall bliebe nämlich immer alles gleich!

Hallo EarlyBird,

erstens freut es mich sehr, dass du noch mit mir kommunizierst.

Und zweitens glaube ich, dass das bloß ein Streit um Worte ist, den wir da führen.

Redbaron wirft mir vor, dass ich mich nicht klar und schlüssig genug ausdrücke, aber wir bewegen uns hier in einem Feld, wo die Sprache an ihre Grenzen gelangt: Denn du hast ja recht damit, dass es keine Gesellschaft ohne Menschen gibt. Denn wo sollten diese Menschen denn auch hingehen, um aus der Gesellschaft rauszugehen. Sollten sie alle Aussteiger werden? Aber dann staut es sich auf den Aussteigerinseln - und dann haben wir dort von neuem eine Gesellschaft, eine schöne Gesellschaft.

Gemeint ist aber eigentlich nicht, dass es eine Gesellschaft ohne Menschen sei, sondern eine ohne menschliche Entscheidungen - oder tendenziell ohne menschliche Entscheidungen. Und das funktioniert so:

Wenn du an einem Interaktionssystem teilnimmst, also z.B. an einer Runde von Leuten, die sich jede Woche trifft. Dann musst du dich jede Woche dafür entscheiden, dort hinzugehen, damit du dabei bist. Dein Dabeisein hängt also zu 100% von deinen Entscheidungen ab.

Nimmst du an einem Organisationssystem teil, also sagen wir, deine Freizeitrunde hat sich zu einem Club mit Clubkarte entwickelt. Dann nimmt man dir deine Entscheidungen, dabei sein zu wollen, zum Großteil ab, indem man dir einmal eine Clubkarte gibt, und die gilt dann z.B. für ein Jahr. Also musst du dich nicht mehr 51mal im Jahr für diese Runde entscheiden, sondern nur mehr einmal.

Nimmst du dagegen am Gesellschaftssystem teil, fragt man dich überhaupt nicht mehr, ob du teilnehmen willst. Du musst deine Zustimmung zum Straßenverkehr und seinen Regeln nicht zum Ausdruck bringen. Andererseits, wenn du dich fehlverhältst im Straßenverkehr, kriegst du eine Geldstrafe aufgebrummt. Man fragt dich nicht, ob du deine Steuern zahlen willst, ob du deine Kinder zur Schule bringen willst, du musst einfach.

Freilich bist du dann auch noch ein Mensch, wenn du das alles musst. Es ist nur die Frage, inwieweit dasjenige, was den Menschen konstituiert, seine freie Entscheidungsfähigkeit ist. Und ob das auch noch ein "ganzer" Mensch ist, wenn man diese Entscheidungsfähigkeit teils weit einschränkt und teils einfach gegenstandslos macht.

Verstehst du mich jetzt besser?
liebe grüße
philohof
 
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AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Hallo EarlyBird,

erstens freut es mich sehr, dass du noch mit mir kommunizierst.

Und zweitens glaube ich, dass das bloß ein Streit um Worte ist, den wir da führen.


Hallo philohof! :)


Ja, Worte sind in vielen Bereichen unzulänglich, zumal sie ja auch bei jedem anders besetzt sind. Aber in einem Forum muss man sich halt damit begnügen....


Redbaron wirft mir vor, dass ich mich nicht klar und schlüssig genug ausdrücke,


Nimm das besser nicht so ernst - der Baron hat etwas andere Intentionen! (Gell, Baron? :D)


aber wir bewegen uns hier in einem Feld, wo die Sprache an ihre Grenzen gelangt: Denn du hast ja recht damit, dass es keine Gesellschaft ohne Menschen gibt. Denn wo sollten diese Menschen denn auch hingehen, um aus der Gesellschaft rauszugehen. Sollten sie alle Aussteiger werden? Aber dann staut es sich auf den Aussteigerinseln - und dann haben wir dort von neuem eine Gesellschaft, eine schöne Gesellschaft.


Hm, ob sie so schön wird, weiß ich nicht, die Menschen nehmen sich ja mit! :D


Gemeint ist aber eigentlich nicht, dass es eine Gesellschaft ohne Menschen sei, sondern eine ohne menschliche Entscheidungen - oder tendenziell ohne menschliche Entscheidungen. Und das funktioniert so:

Wenn du an einem Interaktionssystem teilnimmst, also z.B. an einer Runde von Leuten, die sich jede Woche trifft. Dann musst du dich jede Woche dafür entscheiden, dort hinzugehen, damit du dabei bist. Dein Dabeisein hängt also zu 100% von deinen Entscheidungen ab.

Nimmst du an einem Organisationssystem teil, also sagen wir, deine Freizeitrunde hat sich zu einem Club mit Clubkarte entwickelt. Dann nimmt man dir deine Entscheidungen, dabei sein zu wollen, zum Großteil ab, indem man dir einmal eine Clubkarte gibt, und die gilt dann z.B. für ein Jahr. Also musst du dich nicht mehr 51mal im Jahr für diese Runde entscheiden, sondern nur mehr einmal.


Hm, ja - aber ich muss trotzdem entscheiden, ob ich die Karte diesesmal nutze oder nicht. Ich fürchte, wir kommen nicht um Entscheidungen herum, das Abnehmen derselben ist nur scheinbar.


Nimmst du dagegen am Gesellschaftssystem teil, fragt man dich überhaupt nicht mehr, ob du teilnehmen willst. Du musst deine Zustimmung zum Straßenverkehr und seinen Regeln nicht zum Ausdruck bringen. Andererseits, wenn du dich fehlverhältst im Straßenverkehr, kriegst du eine Geldstrafe aufgebrummt. Man fragt dich nicht, ob du deine Steuern zahlen willst, ob du deine Kinder zur Schule bringen willst, du musst einfach.


Deswegen gibt es ja auch keine Steuerhinterzieher! :D
Nee, Spaß beiseite, es stimmt, dass man Vieles muss, einfach, weil man reingeboren wurde. Ich musste als Kind jeden Sonntag in die Kirche und niemand hat mich gefragt, ob ich das will. Allerdings - als ich für mich selber geklärt hatte, dass ich es nicht will, ging ich auch nicht mehr, obwohl die ganze Familie - bis auf einen - mindestens ein Jahr lang jeden Sonntag Terror machte deshalb. Danach haben sie es aufgegeben und meine Geschwister gingen dann auch nicht mehr! :lachen:


Freilich bist du dann auch noch ein Mensch, wenn du das alles musst. Es ist nur die Frage, inwieweit dasjenige, was den Menschen konstituiert, seine freie Entscheidungsfähigkeit ist. Und ob das auch noch ein "ganzer" Mensch ist, wenn man diese Entscheidungsfähigkeit teils weit einschränkt und teils einfach gegenstandslos macht.

Verstehst du mich jetzt besser?
liebe grüße
philohof



Ja, ich verstehe dich besser, dich stört, dass Menschen sich gegenseitig zwingen! Das hat mich auch lange gestört, und wie! Aber heute lasse ich mich nicht mehr zwingen, sondern betrachte das Leben wie einen Dschungel. Man kann bestimmte Gegebenheiten nicht abschaffen, also guckt man, wie man damit umgeht. Und das, was mir freisteht, das nutze ich auch - wenn ich WILL! Ach ja, und das was ich ändern kann und will, das ändere ich! :)


LG

EarlyBird :)
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Hm, ja - aber ich muss trotzdem entscheiden, ob ich die Karte diesesmal nutze oder nicht. Ich fürchte, wir kommen nicht um Entscheidungen herum, das Abnehmen derselben ist nur scheinbar.

Hallo EarlyBird,

nein, du musst nicht entscheiden, ob du die Karte nutzt. Allein damit, dass du die Karte besitzt, bist du Mitglied dieses Clubs, dein Mitgliedsbeitrag wird einmal pro Jahr von deinem Konto abgezogen, und die Organisation, also der Club, ist zufrieden mit dir. Das ist ja der Witz bei den Clubkarten, dass du sie nicht benutzen musst, sondern schon allein durch den Besitz an die jeweilige Organisation gebunden bist. Besonders geschickte Clubs - aber auch das ist heute schon allgemein - verlängern dann deine Clubkarte automatisch. D.h. du musst dich nicht selber rühren am Jahresende und sagen: "Nächstes Jahr will ich auch wieder dabei sein!" Sondern du müsstest dich rühren, um nächstes Jahr nicht dabei zu sein. Was auch wiederum viele Menschen aus Faulheit oder aus Unachtsamkeit unterlassen werden. Daraus siehst du: Die Organisationen nutzen nicht nur unsere Entscheidungen, sondern auch unsere Nicht-Entscheidungen.




Deswegen gibt es ja auch keine Steuerhinterzieher! :D
Nee, Spaß beiseite, es stimmt, dass man Vieles muss, einfach, weil man reingeboren wurde. Ich musste als Kind jeden Sonntag in die Kirche und niemand hat mich gefragt, ob ich das will. Allerdings - als ich für mich selber geklärt hatte, dass ich es nicht will, ging ich auch nicht mehr, obwohl die ganze Familie - bis auf einen - mindestens ein Jahr lang jeden Sonntag Terror machte deshalb. Danach haben sie es aufgegeben und meine Geschwister gingen dann auch nicht mehr! :lachen:

Ja, nur der Unterschied ist, dass man aus einer Familie irgendwann wegkann, sobald man alt genug ist. Aus dem Staat kannst du nicht weg. Aus einem bestimmten Staat kannst du schon weg, aber dann musst du halt in einem anderen Staat Steuern zahlen. Steuerhinterzieher, die ihr Geld in größerem Stil ins Ausland schaffen, müssen dafür waghalsige Aktionen durchführen und können hinterher nicht gut schlafen, weil sie Angst haben müssen, dass eine Steuersünder-Cd von ihnen auftaucht. Dem Staat entkommt man also nicht im Gegensatz zu kleinen, lokal begrenzten Gemeinschaften.


Ja, ich verstehe dich besser, dich stört, dass Menschen sich gegenseitig zwingen! Das hat mich auch lange gestört, und wie! Aber heute lasse ich mich nicht mehr zwingen, sondern betrachte das Leben wie einen Dschungel. Man kann bestimmte Gegebenheiten nicht abschaffen, also guckt man, wie man damit umgeht. Und das, was mir freisteht, das nutze ich auch - wenn ich WILL! Ach ja, und das was ich ändern kann und will, das ändere ich! :)

Nein, jetzt verstehst du mich wiederum nicht. Mich stört nicht "dass die Menschen sich gegenseitig zwingen", weil das ja unabdingbar ist. Ich meine, in Österreich soll jetzt ab September die Grundsicherung eingeführt werden, da fällt dann der große Zwang des "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." weg, aber andere Zwänge bestehen ja weiter. Was mich viel eher stört ist,
  • dass die Menschen nicht wissen und nicht mitreflektieren, dass sie einander zwingen, wenn sie einander zwingen und
  • dass einem Menschen dann irgendwo auch ein Freiraum gegeben werden muss, wo er/sie sich ausleben kann, weil es andere gibt, wo er unter Zwang steht.

Anders gesagt, es ist dasjenige, was Pierre Bourdieu die "naive Philosophie des Handelns" nennt, von der er in der methodologischen Einleitung zu seinem großen Interviewband "Das Elend der Welt" spricht. Die "Philosophie des Handelns" ist weit verbreitet unter den Menschen und besagt, dass jede/r jederzeit völlig frei handeln kann, egal welche Lebensumstände er/sie hat. Die Folge der "Philosophie des Handelns" ist, dass das sozialwissenschaftliche Interview den Charakter eines erniedrigenden Verhörs annimmt, wenn z.B. der aus einer höheren sozialen Schicht kommende Interviewer einen Sozialhilfeempfänger/eine -empfängerin und diesem/er in der Gesprächssituation gleichsam unterstellt, im Grunde dieselben Entwicklungsmöglichkeiten gehabt zu haben wie er, nur sich eben anderes entschieden zu haben.

Mit anderen Worten, die "Philosophie des Handelns" berücksichtigt nicht, unter welchem sozialen Druck einzelne Menschen jeweils handeln. (Dass es nicht in derselben Weise normal und selbstverständlich ist, wenn ein Kind aus gutem Hause sein Gymnasium abschließt oder ein Jugendlicher, dessen Eltern Alkoholiker sind und der/die vielleicht sexuell missbraucht worden ist, seine/ihre Lehre abschließt.) Und dadurch gerät sie zur größten Menschenverachtung, weil sie auf der Grundlage "ein jeder ist seines Glückes Schmied" einen jeden Menschen selbst alleinverantwortlich macht für die Lage, in die ihn die Gesellschaft gebracht hat.

Das ist es also, was mich in der Hauptsache stört, EarlyBird: Wenn das Handeln von Menschen beurteilt wird ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Lage und der Schwierigkeit dieser Lage. Denn allein aus dem Verhältnis zwischen unseren Taten und dem sozialen Druck, unter dem wir sie verwirklichen mussten, ergeben sich ihr Sinn und ihr Wert

Liebe Grüße
philohof
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Hallo EarlyBird,

nein, du musst nicht entscheiden, ob du die Karte nutzt. Allein damit, dass du die Karte besitzt, bist du Mitglied dieses Clubs, dein Mitgliedsbeitrag wird einmal pro Jahr von deinem Konto abgezogen, und die Organisation, also der Club, ist zufrieden mit dir. Das ist ja der Witz bei den Clubkarten, dass du sie nicht benutzen musst, sondern schon allein durch den Besitz an die jeweilige Organisation gebunden bist. Besonders geschickte Clubs - aber auch das ist heute schon allgemein - verlängern dann deine Clubkarte automatisch. D.h. du musst dich nicht selber rühren am Jahresende und sagen: "Nächstes Jahr will ich auch wieder dabei sein!" Sondern du müsstest dich rühren, um nächstes Jahr nicht dabei zu sein. Was auch wiederum viele Menschen aus Faulheit oder aus Unachtsamkeit unterlassen werden. Daraus siehst du: Die Organisationen nutzen nicht nur unsere Entscheidungen, sondern auch unsere Nicht-Entscheidungen.


Hallo philohof! :)


Das ist der Grund, weshalb ich mich konstant weigere, irgendwelchen Organisationen beizutreten, der Aufwand wieder rauszugehen ist mir zu groß! Klar hat es mich in meiner Jugend auch erwischt, aber heute nehme nicht mal irgendwelche PayCards (oder wie die Dinger heißen), auch wenn sie angeblich Vorteile bringen!


Ja, nur der Unterschied ist, dass man aus einer Familie irgendwann wegkann, sobald man alt genug ist. Aus dem Staat kannst du nicht weg. Aus einem bestimmten Staat kannst du schon weg, aber dann musst du halt in einem anderen Staat Steuern zahlen. Steuerhinterzieher, die ihr Geld in größerem Stil ins Ausland schaffen, müssen dafür waghalsige Aktionen durchführen und können hinterher nicht gut schlafen, weil sie Angst haben müssen, dass eine Steuersünder-Cd von ihnen auftaucht. Dem Staat entkommt man also nicht im Gegensatz zu kleinen, lokal begrenzten Gemeinschaften.


Ja, ich weiß, hatte auch lange mit dem Gefühl von Unfreiheit zu kämpfen, was ich dadurch hatte. Aber man muss in diesem Gefühl wirklich nicht stecken bleiben! Darum hab ich mir ja das Bild mit dem Dschungel erarbeitet. Wenn ich durch ein Dickicht muss, wenn ich weiterkommen will, dann nehme ich das nicht persönlich. Es ist eben die Umgebung, in der ich grade bin. Und "by the way" erforsche ich sie gleich und erarbeite mir Techniken, um effizient damit umzugehen. Ich profitiere also letztlich davon!


Nein, jetzt verstehst du mich wiederum nicht. Mich stört nicht "dass die Menschen sich gegenseitig zwingen", weil das ja unabdingbar ist. Ich meine, in Österreich soll jetzt ab September die Grundsicherung eingeführt werden, da fällt dann der große Zwang des "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." weg,


Wow! Das ist ja toll! Ich beneide euch!


aber andere Zwänge bestehen ja weiter. Was mich viel eher stört ist,
  • dass die Menschen nicht wissen und nicht mitreflektieren, dass sie einander zwingen, wenn sie einander zwingen und
  • dass einem Menschen dann irgendwo auch ein Freiraum gegeben werden muss, wo er/sie sich ausleben kann, weil es andere gibt, wo er unter Zwang steht.

Anders gesagt, es ist dasjenige, was Pierre Bourdieu die "naive Philosophie des Handelns" nennt, von der er in der methodologischen Einleitung zu seinem großen Interviewband "Das Elend der Welt" spricht. Die "Philosophie des Handelns" ist weit verbreitet unter den Menschen und besagt, dass jede/r jederzeit völlig frei handeln kann, egal welche Lebensumstände er/sie hat. Die Folge der "Philosophie des Handelns" ist, dass das sozialwissenschaftliche Interview den Charakter eines erniedrigenden Verhörs annimmt, wenn z.B. der aus einer höheren sozialen Schicht kommende Interviewer einen Sozialhilfeempfänger/eine -empfängerin und diesem/er in der Gesprächssituation gleichsam unterstellt, im Grunde dieselben Entwicklungsmöglichkeiten gehabt zu haben wie er, nur sich eben anderes entschieden zu haben.


Na ja, wer die persönliche Geschichte des Individuums nicht berücksichtigt, der hat sehr Vieles noch nicht kapiert, das ist klar! Andererseits, man muss ja für sich selbst eine Auswahl treffen, denn es gibt ja viel zu viele Menschen für einen Einzigen! Also wähle ich mir lieber Menschen aus, die reflektieren WOLLEN. Ist mir auf Dauer viel zu mühsam, erst mal jemanden davon zu überzeugen zu versuchen, dass das überhaupt etwas bringt! Ich kann ja nichts für das Schicksal des Anderen und kann es auch nicht ändern! Ich kann nur zuhören und mich damit auseinandersetzen, wenn es um die bewusste Bewältigung geht! Das reicht mir auch.


Mit anderen Worten, die "Philosophie des Handelns" berücksichtigt nicht, unter welchem sozialen Druck einzelne Menschen jeweils handeln. (Dass es nicht in derselben Weise normal und selbstverständlich ist, wenn ein Kind aus gutem Hause sein Gymnasium abschließt oder ein Jugendlicher, dessen Eltern Alkoholiker sind und der/die vielleicht sexuell missbraucht worden ist, seine/ihre Lehre abschließt.) Und dadurch gerät sie zur größten Menschenverachtung, weil sie auf der Grundlage "ein jeder ist seines Glückes Schmied" einen jeden Menschen selbst alleinverantwortlich macht für die Lage, in die ihn die Gesellschaft gebracht hat.

Das ist es also, was mich in der Hauptsache stört, EarlyBird: Wenn das Handeln von Menschen beurteilt wird ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Lage und der Schwierigkeit dieser Lage. Denn allein aus dem Verhältnis zwischen unseren Taten und dem sozialen Druck, unter dem wir sie verwirklichen mussten, ergeben sich ihr Sinn und ihr Wert

Liebe Grüße
philohof


Ok, ja, das stimmt! Mich stört das auch! Aber leider musste ich feststellen, es kümmert sich niemand drum, ob mich das stört oder nicht! Wer verstehen möchte, der bemüht sich drum und sonst eben keiner! Man kann es wirklich nicht erzwingen! Also komme ich doch wieder nicht umhin mich selbst zu entscheiden, mit wem ich kommunizieren möchte und mit wem nicht. Zumindest, wenn es um tieferen Austausch geht, auf der Alltagsebene geht es ja mit fast jedem.
Da fällt mir wieder ein, was mir ein weiser Mann mal gesagt hatte, als ich mich mit meiner eigenen Verachtung rumquälte und mich dafür verurteilte. Er sagte, der Mensch verachtet, was er nicht versteht! Nur, was man schon versteht, kann man achten!
Und Verstehen ist eben kein Schalter, den man einfach umlegen kann, sondern ein lebenslanger Prozess - man muss es sich erarbeiten!
Drum fällt es mir heute leichter mit der Verachtung umzugehen! Bei mir selbst und auch bei anderen!


LG

EarlyBird :)
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Ja, ich weiß, hatte auch lange mit dem Gefühl von Unfreiheit zu kämpfen, was ich dadurch hatte. Aber man muss in diesem Gefühl wirklich nicht stecken bleiben! Darum hab ich mir ja das Bild mit dem Dschungel erarbeitet. Wenn ich durch ein Dickicht muss, wenn ich weiterkommen will, dann nehme ich das nicht persönlich. Es ist eben die Umgebung, in der ich grade bin. Und "by the way" erforsche ich sie gleich und erarbeite mir Techniken, um effizient damit umzugehen. Ich profitiere also letztlich davon!

Hallo EarlyBird,

ich habe lang herumüberlegt: Soll ich noch mal antworten oder nicht mehr. Aber seis drum. Das interessiert mich noch: das Bild mit dem Dschungel.

Nun ja, der Dschungel da draußen bezeichnet doch die Menschenwelt. Und gleichzeitig bringt er zum Ausdruck, dass die Menschenwelt nicht menschlich ist. Oder nicht menschenfreundlich.

Und da sagst du dann: Du hättest gelernt, damit umzugehen. Mit dem Dschungel-Bild allein. Dieses Bild allein hätte dir ermöglicht, mit der organisierten Unmenschlichkeit draußen umzugehen. Also gewissermaßen ein- für allemal. Und jetzt "profitierst" du sogar noch davon? Also wie das gehen soll, ist mir schleierhaft.

Nur so nebenbei: Ich bin heute auch wieder mit der Menschenwelt in Kontakt gekommen. Ich war bei IKEA Möbel kaufen. Da sagen sie dir: Für 89 Euro liefern sie dir die Möbel überall hin in Wien. Dann suchst du dir die Möbel aus und willst das Lieferservice in Anspruch nehmen. Da sagen sie dir: 89 Euro gilt nur, wenn du die Möbel zur Verladestelle schleppst. Wenn sie das machen müssen, kostets ca. 30 Euro mehr. Die 30 Euro zahlst du an IKEA, die 89 gehen an DHL. Nach der Kassa kommst du zu den Leuten von DHL. Wann könnt ihr die Möbel denn bringen, fragst du. Na, nächsten Mittwoch. Man kann sie auch gleich haben, kostet 25 Euro mehr für eine Expresslieferung.

Was schlimm daran ist? Nicht die einzelnen Euro-Beträge. Sondern, dass ich und dass wir alle mit solchen Geschichten unser Leben zubringen! Wenn Sie es gleich geliefert haben wollen, zahlen Sie 25 Euro mehr für eine Expresslieferung. Ich will so etwas in meinem ganzen Leben nie wieder hören!

Und du hast das bewältigt, mit der Dschungelmetapher, einmal für allemal!

Da bewundere ich dich: Mir eröffnet sich eine Facette der Welt nach der anderen - und ich denke mir bei einer jeden: Wow! Die ist so furchtbar geraten, wie es nur möglich war.

Herzlichst Dein philohof!
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Ja, nur der Unterschied ist, dass man aus einer Familie irgendwann wegkann, sobald man alt genug ist. Aus dem Staat kannst du nicht weg. Aus einem bestimmten Staat kannst du schon weg, aber dann musst du halt in einem anderen Staat Steuern zahlen. Steuerhinterzieher, die ihr Geld in größerem Stil ins Ausland schaffen, müssen dafür waghalsige Aktionen durchführen und können hinterher nicht gut schlafen, weil sie Angst haben müssen, dass eine Steuersünder-Cd von ihnen auftaucht. Dem Staat entkommt man also nicht im Gegensatz zu kleinen, lokal begrenzten Gemeinschaften.
:D ja, dem schicksal entkommt keine/r.
weder bei IKEA noch sonst wo. :D
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Liebe Bewohner und Besucher des Denkforums,
mein Name ist Helmut Hofbauer, ich bin 37 Jahre alt und wohne in Wien.

Was ich hier suche ist: Ob ein Ort für die Philosophie außerhalb der Universität möglich ist?

Jahrelang habe ich mich mit universitärer Philosophie beschäftigt. Die Texte auf meiner Homepage geben beredtes Zeugnis davon: www.philohof.com . Dabei habe ich mich oft in eine Diskussion mit der Wissenschaft verstrickt, denn: Philosophie muss ja an der Universität außer den Regeln und Ansprüchen der Philosophie auch noch anderen Ansprüchen genügen. Anders gesagt: Philosophie an der Universität ist nicht richtig Philosophie.

Andererseits habe ich in dieser mühevollen Zeit viel gelernt, z.B.: Philosophie an der Universität ist nicht deshalb so langweilig, weil dort langweilige Menschen sie unterrichten. Auch Politik ist nicht deshalb so langweilig, weil die Politiker so langweilig sind (jedenfalls ist das nicht der letzte Grund). Sondern: Es gibt jeweils hinter den sozialen Phänomenen mehrer Schichten sozialer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge, die letztlich bewirken, dass das herauskommt, was wir dann in der Realität wahrnehmen. Ich glaube, dass ich von meinen Einsichten in diese Zusammenhänge und sozialen Kreisläufe einiges erzählen kann.

In letzter Zeit habe ich mich mit praktischer Philosophie beschäftigt. Es gibt ja auch in Österreich einige philosophische Praxen. Dabei habe ich festgestellt, dass es für das Angebot Philosophie (immer noch) keinen Markt gibt. Das ist natürlich sehr schlecht: Da wir in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft leben, existiert nämlich letzten Endes alles das nicht, wofür es keinen Markt gibt. Oder umgekehrt: Das Fehlen eines Marktes für Philosophie erzeugt bei den NichtphilosophInnen den Eindruck, dass akademische Philosophie die einzige und die wahre Philosophie ist. Was natürlich fatal ist, denn wie könnte man Philosophie popularisieren, wenn die Leute schon von vornherein ein falsches Bild von Philosophie haben?

Aber die Grundlage für einen Ort für Philosophie in der Gesellschaft kann ja immer nur das Interesse von Menschen an Philosophie sein. Und der kommunikative Austausch zwischen ihnen. Deshalb bin ich hier: Um möglichst viele philosophieinteressierte Menschen zu finden, die aufgrund dieses Interesses auch den Wunsch verspüren, dass die Philosophie einen Platz in der Gesellschaft haben sollte.

Wisst Ihr, was ich meine? Teilt hier irgendjemand meinen Wunsch nach einem Ort für die Philosophie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit?
hallo helmut,
ich hab da mal irgendwann in einem fernsehsender einen beitrag gesehen, in dem ein philosoph anderen menschen philosophische begleitung anbot.
das war so gedacht, dass dieser interessierte mensch den philosophen zu einzelgesprächen "mieten" konnte.
der philosoph stellte sich dann für diesen einzelkunden bereit und beide diskutierten über die themen des interessenten, wobei der philosoph ihm die überlegungen der schon anerkannten philosophen näherbrachte.
dieser beitrag hat mir sehr gut gefallen.
ich dachte mir dabei: "na, endlich mal eine gute idee.....wofür die philosophie für den einzelnen menschen nutze ist."
kennst du diese idee?
oder praktizierst du sie sogar?

ich seh philosophie ganz ähnlich wie spiritualität: nicht jeder mensch hat daran grundsätzliches interesse.
aber die, die es haben, wollen dieses interesse auch irgendwo und bei irgendwem stillen.

liebe grüße
kathi
 
AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft

Hallo EarlyBird,

ich habe lang herumüberlegt: Soll ich noch mal antworten oder nicht mehr. Aber seis drum. Das interessiert mich noch: das Bild mit dem Dschungel.

Nun ja, der Dschungel da draußen bezeichnet doch die Menschenwelt. Und gleichzeitig bringt er zum Ausdruck, dass die Menschenwelt nicht menschlich ist. Oder nicht menschenfreundlich.

Und da sagst du dann: Du hättest gelernt, damit umzugehen. Mit dem Dschungel-Bild allein. Dieses Bild allein hätte dir ermöglicht, mit der organisierten Unmenschlichkeit draußen umzugehen. Also gewissermaßen ein- für allemal. Und jetzt "profitierst" du sogar noch davon? Also wie das gehen soll, ist mir schleierhaft.


Von ein für allemal hab ich nichts gesagt, philohof!
Eigentlich war es nur ein Beispiel, wenn ich alle Bilder, mit denen ich innerlich "arbeite" hier aufzählen würde, würde ich nie mehr fertig!
Das Dschungelbild hat mir oft geholfen, die Dinge, die ich nicht ändern kann, nicht persönlich zu nehmen - was gibt es daran auszusetzen? :confused:



Nur so nebenbei: Ich bin heute auch wieder mit der Menschenwelt in Kontakt gekommen. Ich war bei IKEA Möbel kaufen. Da sagen sie dir: Für 89 Euro liefern sie dir die Möbel überall hin in Wien. Dann suchst du dir die Möbel aus und willst das Lieferservice in Anspruch nehmen. Da sagen sie dir: 89 Euro gilt nur, wenn du die Möbel zur Verladestelle schleppst. Wenn sie das machen müssen, kostets ca. 30 Euro mehr. Die 30 Euro zahlst du an IKEA, die 89 gehen an DHL. Nach der Kassa kommst du zu den Leuten von DHL. Wann könnt ihr die Möbel denn bringen, fragst du. Na, nächsten Mittwoch. Man kann sie auch gleich haben, kostet 25 Euro mehr für eine Expresslieferung.

Was schlimm daran ist? Nicht die einzelnen Euro-Beträge. Sondern, dass ich und dass wir alle mit solchen Geschichten unser Leben zubringen! Wenn Sie es gleich geliefert haben wollen, zahlen Sie 25 Euro mehr für eine Expresslieferung. Ich will so etwas in meinem ganzen Leben nie wieder hören!


Wer noch bei IKEA einkauft, ist selber schuld! Die waren mal echt gut, kann man aber heute vergessen. Es gibt immer solche und solche - und man kann aus Erfahrung lernen! Die Menschen sind nun mal nicht perfekt und es gibt auch welche, die Andere über den Tisch ziehen.


Und du hast das bewältigt, mit der Dschungelmetapher, einmal für allemal!


Wo hab ich das behauptet? Leben muss man immer neu bewältigen! Drum finde ich den Dschungel gut - er enthält ganz viele verschiedene Lebewesen und Gegebenheiten. Du scheinst zu denken, dass Dschungel Monokultur ist! :rolleyes:


Da bewundere ich dich: Mir eröffnet sich eine Facette der Welt nach der anderen - und ich denke mir bei einer jeden: Wow! Die ist so furchtbar geraten, wie es nur möglich war.

Herzlichst Dein philohof!


Deine eristischen Bemerkungen kannst du dir sparen! Ich kann nicht jedesmal meine ganze Lebensgeschichte hier aufschreiben und will es auch nicht!
und wenn du die Gesellschaft partout als durchgehend schlecht sehen willst, ist das letzten Endes dein Problem!

Und tschüss!
 
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hallo helmut,
ich hab da mal irgendwann in einem fernsehsender einen beitrag gesehen, in dem ein philosoph anderen menschen philosophische begleitung anbot.
das war so gedacht, dass dieser interessierte mensch den philosophen zu einzelgesprächen "mieten" konnte.
der philosoph stellte sich dann für diesen einzelkunden bereit und beide diskutierten über die themen des interessenten, wobei der philosoph ihm die überlegungen der schon anerkannten philosophen näherbrachte.
dieser beitrag hat mir sehr gut gefallen.
ich dachte mir dabei: "na, endlich mal eine gute idee.....wofür die philosophie für den einzelnen menschen nutze ist."
kennst du diese idee?
oder praktizierst du sie sogar?

ich seh philosophie ganz ähnlich wie spiritualität: nicht jeder mensch hat daran grundsätzliches interesse.
aber die, die es haben, wollen dieses interesse auch irgendwo und bei irgendwem stillen.

liebe grüße
kathi

Hallo Kathi,

ja ich möchte sowas in Art praktizieren. Immerhin habe ich das Wissen und die Leseerfahrung dafür.
Allerdings unterscheidet sich das, was ich anbieten möchte, von den philosophischen Gesprächen, die du vor Augen hast, dadurch, dass ich mir vorstelle, die Leute sollen was ausarbeiten. Es sollen also nicht nur Gespräche sein, sondern es soll ein Formgebungsprozess stattfinden. Durchaus auch in der Form, dass die Leute am Ende ihre Schlüsse in einem Text festhalten. Weil ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht, ob man einfach nur über etwas redet oder ob man es ausformuliert. Es ist ja bei der Philosophie - so wie ich sie verstehe - die konkrete und ernsthafte Arbeit an den Gedanken, die einem weiterhelfen sollte. Und nicht ein philosophischer Guru oder Lehrer, der weiß, während man selbst nicht weiß.

liebe grüße
philohof
 
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