AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft
Und ich bleibe dabei, nicht die Institutionen müssen etwas als relevant anerkennen, sondern die Menschen selbst. Wer am Bedürfnis der Menschen vorbei agiert, ist langfristig zum Scheitern verurteilt.
Hallo EarlyBird,
nachdem wir jetzt ohnehin in einer Art Soziologieseminar gelandet sind, mögen folgende Anmerkungen angebracht sein.
Natürlich kann eine Institution nicht frontal gegen die Bedürfnisse agieren, also 180Grad gegen sie; dann sie sie zum Scheitern verurteilt - da hast du recht. Der Grund, warum das so ist, den hatten wir schon: Die Organisation oder Institution muss sich ja selektiv der Antriebe und Impulse der Einzelmenschen bedienen können. Sie machen ja den Antrieb aus, mit dem das Institutionenschifferl fährt.
Aber am Bedürfnis der Menschen vorbeiagieren und das sogar langfristig, ohne dabei unterzugehen, das kann sie schon.
Mir scheint auch, da ist gar nicht viel soziologisches Wissen notwendig, um das zu verstehen: Wenn du ein bisschen deinen Verstand zusammennimmst und dein Denken mit deinen Erfahrungen vergleichst, dann kommst du ohnehin leicht drauf, wie es geht.
Also nehmen wir mal an: Alle Menschen wollen das Gleiche; sie wollen es sehr stark und sie sind sich ihres Willens deutlich bewusst (was eine sehr unrealistische Annahme darstellt). In diesem Falle weht der Wind - metaphorisch gesprochen - eindeutig von einer Seite. Selbst in dem Fall kannst die Institution bis zu 90 Grad gegen den Wind segeln und trotzdem vorankommen. Selbst in diesem sehr eindeutigen Fall ist es für die Institution also schon einmal möglich, quer zu den Bedürfnissen der Menschen zu agieren (und so in gewisser Weise an ihnen vorbeizuagieren) ohne zu scheitern.
Jetzt werden wir ein bisserl realistischer: Meistens haben die Menschen verschiedene Bedürfnisse. Was passiert dann mit unserem Institutionensegelschiffchen. Nun, die Medien im Allgemeinen und das Fernsehen im Besonderen haben es uns vorgemacht: Sie bieten ein Programm an, dass allen ein bisschen gefällt mit der Rechtfertigung, dass man den kleinsten gemeinsamen Nenner finden muss, wenn man möglichst viele Menschen ansprechen will. Das Ergebnis ist, dass das Programm eigentlich gar niemandem gefällt, trotzdem funktioniert das Fernsehbusiness erfolgreich. Für unseren Zweck wichtig ist, dass mit diesem Trick das Institutionenschiffchen schon ein ganzes Stück mehr als 90 Grad gegen die Bedürfnisse der Menschen fahren kann (vielleicht schon 120 Grad), denn wenn das Fernsehprogramm allen nur noch ein bisserl gefallen muss, damit es eingeschaltet wird, dann muss es ihnen nicht einmal zur Hälfte (zu 50%) gefallen. Hier agieren also Institutionen schon weitgehend gegen die Bedürfnisse der Menschen (und sie tun dies langfristig und erfolgreich).
Jetzt kommt der dritte Denkschritt: Menschen wollen ja nicht nur Unterschiedliches, sondern das, was sie wollen ist ihnen auch nicht immer zu 100% bewusst. Oftmals kommen sie über einen Weg von vielen Mikroentscheidungen bei einem Resultat an, das sie so nie gewählt hätten. Z.B. dann, wenn sie übergewichtig geworden sind. Kaum jemand wählt bewusst Übergewicht. Aber viele entscheiden sich in zahlreichen Situationen für den Schweinsbraten und die Sachertorte und gegen den Apfel und gegen eine sportliche Betätigung. Mithilfe dieses inneren Schweinehunds lässt sich der Winkel, in dem das Institutionen- oder Organisationsschiff gegen die Bedürfnisse der Menschen fährt noch einmal vergrößern. Denn es braucht ja nur die oberflächlichen Bedürfnisse ansprechen, dann kann es die tieferen und umfassenderen Bedürfnisse nur umso schlimmer misshandeln oder missachten. Also sind wir jetzt bei ca. 185% - ja?
Also ca. 185% können Institutionen gegen die Bedürfnisse der Menschen steuern und dies langfristig und erfolgreich tun.
Bin schon neugierig, welches Gegenargument du dazu ausgraben wirst!
Ich weiß zwar nicht, wieso du mich im Garten Eden wähnst, aber ok!
Frage: WANN und WO hat es real funktionierende Inklusionsgesellschaften gegeben? Also, oft kann das nicht der Fall gewesen sein.
Ich verstehe aber auch nicht, was das mit unserer Diskussion zu tun hat.
Ähm, lieber EarlyBird,
im Garten Eden wähne ich dich, weil es in deiner Anschauung immer nur lauter Menschen gibt, die ausschließlich genau das tun, was sie wollen und vielleicht auch noch die Zeit und die materiellen Mittel dazu haben. Aber ich sehe schon, dass ich dich aus deinem Garten Eden nicht herausholen werde können, weil es in ihm nicht einmal einen Baum der Erkenntnis gibt, von dessen Apferl du essen könntest.
Bei deinen Argumentationen fühle ich mich bisweilen an eine Stelle in einem Roman von Gernot Wolfgruber erinnert. Es muss "Niemandsland" gewesen sein, der Roman, in dem ein Arbeiter sich ins Angestelltenmilieu hocharbeitet. Der Protagonist, der also aus dem Arbeitermilieu stammt, liest Romane und stellt fest, dass in diesen Romanen die handelnden Figuren meistens nicht arbeiten und den ganzen Tag Zeit zu haben scheinen. Dazu brauchte es wohl einen Autor aus den einfachen Schichten wie Gernot Wolfgruber, um so etwas (was im Grunde eine Banalität ist) einmal festzustellen. Du, EarlyBird, argumentierst so, als wärst du ein Autor dieser Romane, die Wolfgruber da ironisch kommentiert: Bei dir erscheinen die Menschen auch immer sehr frei, sor frei, als müssten sie nicht arbeiten, als müssten sie sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, als müssten sie nicht essen, als müssten sie nicht auf die Meinung anderer (die für ihren Lebensunterhalt wichtig sind) Rücksicht nehmen, vielleicht sogar so frei, als müssten sie nicht einmal atmen. Ja dann wäre man am freiesten und könnte sich so unangepasst verhalten, wie du es zu empfehlen scheinst.
Zu den "funktionierenden Inklusionsgesellschaften" - ich weiß ja wiederum nicht, was du mit "funktionierend" meinst. Reibungslos funktioniert im zwischenmenschlichen Bereich nie was. Aber grundsätzlich funktionierten und funktionieren alle stammesartigen Gemeinschaften nach dem Inklusionsmodus. Die Übergänge zu einer funktional differenzierten Gesellschaft sind dann fließend.
Liebe Grüße
philohof