AW: Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft
Hallo EarlyBird,
ich glaube, so wesensfremd sind wir einander gar nicht. Ich bin ebenso wie du ein Individualist (sonst wäre ich kein Philosoph) und kann daher dir daher nur zustimmen, wenn du im vorigen Kommentar geschrieben hast, Philosophie sei die individuelle Arbeit an einem selber.
Hallo philohof!
Ich bin kein Individualist, ich bin ein Individuum!
Ja, ist echt schwer, seine Sicht rüberzubringen, ohne dass es zu Missverständnissen kommt!
Der Hauptunterschied zwischen uns beiden besteht meiner Meinung nach darin, dass ich wohl jederzeit in deine Perspektive wechseln kann, du aber nicht in meine, wenn ich über die Gesellschaft rede. Und das ist ja auch kein Wunder, musste ich mir diese zweite, zusätzliche Perspektive doch selbst erst mühsam in der Universität durch die Lektüre von Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Norbert Elias, Ralf Dahrendorf, Berger/Luckmann, Emile Durkheim und anderen aneignen.
Ja, ok, die habe ich alle nicht gelesen. Ich habe andere Bücher und Quellen auf meinem Weg gefunden, die mich weitergebracht haben und die mir neue Sichten eröffnet haben. Ok, musste ich mir natürlich auch erarbeiten und leicht war 's auch nicht immer.
Wenn du mir also vorwirfst, ich lasse "in (d)ir ein Bild von seelenlosen Robotern entstehen, die über keinen eigenen inneren Antrieb verfügen und "willige" Sklaven einer "anonymen Gesellschaft" sind" - was kann ich dazu sagen?
Erstens war es kein Vorwurf, sondern eine Feststellung und Mitteilung und zweitens bezog sich das Bild nicht auf dich persönlich, sondern auf dein Weltbild oder vielleicht besser auf dein Bild von den Menschen, ja!
Du denkst ja nach und ringst um Erkenntnis, wie könntest du da selber ein Roboter sein?
Durkheim hat geschrieben, die sozialen Tatsachen seien WIE DINGE zu betrachten. Das ist eben die soziologische Perspektive. Was aus der individuellen Perspektive wie lebendige Menschen aussieht, kann aus der soziologischen Perspektive ZUGLEICH wie "seelenlose Roboter" aussehen. Da liegt kein Widerspruch darin. Und warum sollte die Soziologie völlig unrecht haben? Sie zeichnet ja nur ein anderes Bild der Gesellschaft, indem sie sie aus einem anderen Winkel und mit anderer Brille anschaut.
Hm, ok, Durkheim hat das geschrieben, mehr weiß ich jetzt nicht, als das, was du jetzt mitteilst!
Aber ich muss dieser Aussage widersprechen, soziale Tatsachen sind keine "Dinge", es sei denn, ein Fluss ist für dich ein Ding. Soziale Gegenheiten sind nichts Feststehendes, sie sind im Fluss, wandeln sich. Ok, manchmal gibt es einen Stau - aber das war es auch schon!
Wenn es stimmen würde, was Durkheim sagt, müssten wir dann nicht noch Urzeitmenschen sein?
Oder was ist da genau unter "Ding" zu verstehen?
Am fatalsten ist es jedoch, wenn du mir vorwirfst, ich sei einer, der darauf wartet, dass man ihm anschiebe und der auch selber anderen gerne etwas vorschreiben möchte. (Und das wirfst du mir vor, weil ich gezeigt habe, mit welch potenten Mitteln die Konkurrenten der Philosophie hantieren, während diese sich nur auf die schwache Kraft individuellen Interesses verlässt!!!) Hier zeigt sich nämlich, dass du UNSER THEMA völlig aus den Augen verloren hast:
Oh nein, ich habe dir das nicht vorgeworfen, ich habe dich nur - zugegeben ziemlich provokant - gefragt, ob es so ist!
Wenn du es nämlich nicht aus den Augen verloren hättest, dann wüsstest du, dass ich niemanden brauche, der mich anschiebt und motiviert zum Philosophieren, weil ich das ohnehin schon tue. Du brauchst auch keinen Anschieber, und dasselbe gilt wohl für alle, die hier im Forum sind. Wenn also wer einen Anschieber bräuchte, dann ist das wohl die PHILOSOPHIE selber, die zur Zeit keinen guten Platz in der Gesellschaft hat, weshalb ich dem Thema den Titel: "Ein Ort für die Philosophie in der Gesellschaft" gegeben habe.
Ja, aber du wirst mir doch wohl zugeben, dass Philosophie kein Ding ist, dass man von außen anschieben kann! Philosophie ist ein TUN! Man kann etwas tun oder man kann es lassen. Man kann auch Interesse für ein Tun wecken, aber man kann es nicht wirklich künstlich erzeugen. Darum kommt es ja oft vor, dass jemand sich mit einem für ihn neuen Gebiet befasst, irgendwann feststellt, nee, das ist nichts für mich und weitersucht. Sucht er nicht weiter, obwohl es nicht wirklich seins ist, wird er mit der Zeit kreuzunglücklich.
Ich sage es auch noch einmal: Ich bin mir des Paradoxons bewusst: Die Philosophie in die Gesellschaft einbringen zu wollen, bedeutet, etwas Individuelles auf der gesellschaftlichen Ebene einbringen zu wollen - das ist also eine Ebenenkollision. So etwas geht im Grund nicht. Ich denke, aus dem Grund ergaben sich auch viele Missverständnisse in der Diskussion bisher von der Art, warum man denn Menschen mit Philosophie belästigen solle, die davon nichts wissen wollen (...nun, das ist deshalb so, weil mich ja auch Coca Cola und Red Bull belästigen, obwohl ich von ihnen nichts wissen will).
Hm, ich hatte dich doch missverstanden. Du willst also bloß Werbung machen, aber nicht die Menschen ändern. Das ist natürlich erfolgversprechender - mit Werbung erreicht man mehr potentiell Interessierte, ja.
Gewiss, auf der gesellschaftlichen Ebene sind die Umgangsformen rabiater als auf der individuellen Ebene (Marketingtricks zählen da oft mehr als wirkliche Kommunikation und Verständnis), weshalb sich die Frage stellt: Ist eine Philosophie denn noch wirkliche Philosophie, die sich auf diese Ebene hinaufbegibt???
Hm, das käme darauf an, WIE man die Werbung gestaltet! Ich könnte mir vorstellen, gute philosophische Gesprächsrunden in Alltagssprache, mit Inhalten, die die Menschen auch wirklich bewegen und Herausarbeiten von Lösungen, als eine Art Talkshow - da könnte sich schon der Eine oder Andere angesprochen fühlen.
Aber man kann es einfach nicht wie Cola anpreisen. Weil es eine Erfahrung ist. Ich hab z.B. viele Familienaufstellungen mitgemacht, kann aber nur denen vermitteln, was da geschieht, die es auch selber schon persönlich erlebt haben, weil es sich da um innere Prozesse handelt.
Und mit Erfahrungen ist es eben so, dass Mensch auch dafür bereit sein muss, zumindest, wenn er die Entscheidungsfreiheit hat. Mensch ist nicht unbedingt immer scharf auf neue Erfahrungen! (Das ist keine Kritik! Ich halte das für ein vernünftiges Verhalten, dass man auf seinem Stand bleibt, bis er wirklich fest und gesichert ist und nichts mehr hergibt!)
Alle diese Fragen und Paradoxa kann man diskutieren - aber dazu muss man die Existenz der gesellschaftlichen Ebene überhaupt erst mal anerkennen.
Nochmal, ich leugne die gesellschaftliche Ebene gar nicht. Ich sehe es nur so, dass gesellschaftliche Bewegungen, Änderungen, immer aus individueller Kleinarbeit bestehen!
Die Menschen würden kein Cola trinken, wenn nicht viele Individuen dafür gesorgt hätten, dass Cola bekannt wird.
Ok, vielleicht hängt es hier: Wie entstehen aus deiner Sicht gesellschaftliche Veränderungen? Wie kommen kollektive Prozesse in Gang? Wer macht das, wenn nicht einzelne Individuen, die die Sehnsucht von vielen anderen verkörpern, stellvertretend ausdrücken und etwas realisieren, dem sich andere dann anschließen können?
Zum Schluss noch eine persönliche Botschaft an dich, EarlyBird: Wenn du dich entschlossen hast, nicht mehr mit mir zu diskutieren, dann nehme ich an, dass diese Diskussion zu dem von mir vorgeschlagenen Thema damit sein Ende nehmen wird. Denn ich antworte gern einem jeden, der was schreibt, aber deine Diskussionsbeiträge sind zumeist die einzigen, auf die ich überhaupt antworten kann, weil die der meisten anderen zu kurz sind als dass ich was mit ihnen anfangen könnte.
In diesem Sinne
einen vielleicht letzten herzlichen Gruß
philohof
Sorry, philohof, ich bin manchmal etwas heftig in Diskussionen und schieße leicht mal über das Ziel hinaus. Ist aber nicht böse gemeint und ich nehme mich dann auch wieder zurück, wenn ich es merke! Ich diskutiere gerne weiter, denn ich profitiere hier richtig, weil ich bei dir auf echtes Interesse stoße und deshalb auch immer neu überdenken und formulieren muss!
Finde es auch toll, dass du Missverständnisse so beharrlich klären willst!
LG
EarlyBird