Ja, wir erleben den objektiven Ist-Zustand individuell verschieden und interpretieren ihn unterschiedlich. Deshalb habe ich auch in einem früheren Kommentar geschrieben, dass es genau so viele "Weltbilder", bzw. Weltansichten gibt, wie Menschen auf der Welt leben. Selbst beim Anblick, des gleichen runden und roten 10 Liter-Plastikeimer mit dem üblichen Rand und einem gebogenen Metallgriff, der eigentlich für alle gleich aussieht, ordnet jeder diesen Eimer anders in sein Gesamtbild ein. Die meisten werden bei dem Anblick eines solchen Eimers wohl an Putzen denken, aber das Gehirn jeder Person, ordnet dem Putzen zudem seine eigene Wertung zu, wie z.B. viele Männer immer noch denken, dass dieser Eimer ein gutes Hilfsmittel für Frauen ist, weil sie Putzen als Frauensache ansehen. Ein anderer denkt bei dem gleichen Eimer vielleicht daran, Wasser damit transportieren zu können und dem nächsten fällt wieder eine völlig andere Assoziation dazu ein. Und je mehr Dinge und Eindrücke Menschen wahrnehmen, umso komplexer und unterschiedlicher wird das gesamte Bild des einzelnen.
Der Versuch mit den Brillen ist wirklich interessant und ich finde es sehr mutig von dir, dass du dabei mitgemacht hast. Auch die Erkenntnisse, die man daraus erlangt hat, sind interessant und eine gute Erklärung für das Funktionieren des Sehens und Einordnen des Gesehenen. Allerdings ist, wie in dem Artikel auch angemerkt wird, das Sehen nicht die einzige Wahrnehmungsart, denn auch Blinde nehmen ihre Umgebung wahr, ohne sie sehen zu können. Doch auch beim Ertasten der Gegenstände und beim Hören von Geräuschen, wird das Gehirn ähnlich vorgehen, bzw. funktionieren, wie beim Sehen und den objektiven Ist-Zustand individuell wahrnehmen und einordnen. Das bedeutet für mich jedoch nicht, dass die Welt nur in unserer Vorstellung existiert, sondern dass wir sie unseren Vorstellungen entsprechend anpassen.
Das entscheidende an der Individualität unserer Wahrnehmungen, ist m.E. nicht das Sehen, Fühlen und Hören und die Einordnung in das für uns "richtige" Bild, sondern die Tatsache, dass jeder Mensch jedes Ding und jede Situation anders bewertet. Eine (möglichst) objektive Ansicht kann also nur dann möglich sein, wenn der Ist-Zustand nicht bewertet, sondern möglichst unvoreingenommen aufgenommen und eingeordnet wird, ohne Assoziationen zuzulassen. Ob ein Mensch das kann, ist natürlich fraglich, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es Möglichkeiten gibt, sich der Wahrnehmung des eigentlichen "Ist-Zustands" anzunähern, indem man sich von den anerzogenen und beigebrachten Assoziationen und (Be)-Wertungen löst. Vielleicht hat Buddha einen solchen oder so ähnlichen Zustand bei seiner Erleuchtung erlebt, indem er sich geistig vom Körperlichen gelöst hat?! Vielleicht kann man diesen Ist-Zustand dadurch erreichen und erfahren, dass man seine Mitte, (den 0-Punkt in meiner Grafik) findet und beibehält, sich also von den äußeren Einflüssen löst?
Ich weiß es natürlich nicht, halte es aber für möglich, dass ein Mensch den tatsächlichen Ist-Zustand erleben kann. Es dürfte jedoch schwierig bis unmöglich sein, einen solchen Zustand so zu beschreiben, dass andere Menschen, die ihn nicht erleben, nachvollziehen und verstehen können.