Der historische Jesus
Nicht nur Jesus von Nazareth, auch Buddha, Konfuzius und Sokrates haben kein geschriebenes Wort hinterlassen. Obwohl sich nicht mehr rekonstruieren läßt, wie Jesus tatsächlich gelebt und was er wortwörtlich gesagt hat, muß man andrerseits über ihn und seine Lehre nicht nur mutmaßen oder gar spekulieren. Die Geschichtlichkeit Jesu läßt sich ebensowenig beweisen wie seine Ungeschichtlichkeit. Falls er nie gelebt hat, so stellt sich die simple und nie beantwortete Frage, weshalb Paulus und die Evangelisten ihn dann "erfunden" haben; und wenn der irdische Jesus eine Tatsache ist, dann erlauben die überlieferten Dokumente es nicht, nach Geschichtlichkeit und Ungeschichtlichkeit zu fragen, sondern nur danach, was wahrscheinlich und was unwahrscheinlich ist. "Wer es etwa noch nicht weiß, daß wir Christus nach dem Fleische
nicht mehr kennen, der mag es sich von der kritischen Bibelwissenschaft sagen lassen; je radikaler er erschrickt, um so besser für ihn und für die Sache" (Rudolf Bultmann: "Glauben und Verstehen", 1933).
Wahrscheinlich ist, daß der irdische Jesus zahlreiche Worte so gesprochen hat, wie die Evangelisten sie wiedergeben. Noch wahrscheinlicher ist, daß die Lehre Jesu von den Evangelisten zumindest sinngemäß interpretiert wurde. Die Evangelisten selber sind weder Schriftsteller noch Biographen, weder Augenzeugen noch Berichterstatter; sie sind im eigentlichen Sinn nicht einmal Autoren. Der irdische Jesus – der noch nicht der Messias, noch nicht der Auferstandene, noch nicht Gottes Sohn, noch nicht "der Christus" war – hat seine Lehre nur mündlich verkündet und seinen Jüngern geboten, sie "predigend" weiterzugeben. Die Zeitgenossen Jesu, die Augen- und Ohrenzeugen, die ersten Gläubigen also, sie brauchten das geschriebene Wort nicht. Sie verstanden die aramäische Sprache Jesu, sie haben den Gekreuzigten selber gesehen; sie schlossen sich nach seinem Tod zu Gemeinden zusammen, und sie erzählten sich, was sie gehört und gesehen, was sie miterlebt hatten. Erst zwei Generationen später, als die Augenzeugen ausstarben und die heilige Stadt
Jerusalem von den Römern zerstört worden war, wurde es notwendig, die Sprüche Jesu zu sammeln, seine Gleichnisse und seine Wundertaten schriftlich zu fixieren, vor allem aber seinen Leidensweg zu beschreiben. Ohne seinen Tod am Kreuz wäre Jesus weder "der Christus" geworden noch eine historische Persönlichkeit. Alle vier Redaktoren der Evangelien haben schon deshalb auf eine verhältnismäßig ausführliche Berichterstattung über den Prozeß gegen Jesus besonderen Wert gelegt, wohingegen sie andere biographische Einzelheiten entweder negieren oder gar uninteressant finden.
Markus, Matthäus und Lukas sind vor allem Redaktoren und Editoren, nicht aber Autoren. Sie verlassen sich auf die Berichte von Augenzeugen, und der Evangelist Lukas formuliert seine Situation ganz klar: "Nachdem viele es unternommen haben, einen Bericht abzufassen über die Dinge, die sich unter uns zugetragen haben, entsprechend der Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren, habe auch ich mich entschlossen, allem von Anfang an sorgfältig nachzugehen. ..."