Keine Spezies hat je die Oberfläche der Erde so stark verändert, beeinflusst und zerstört wie die Menschheit. Zerstört, entweder um sie auszubeuten oder um neuen Platz zu schaffen für weitere Veränderungen, respektive im Jargon der Spezies Verbesserungen. Die meißten Menschen leben mittlerweile in einer vollgestopften, verstellten und überfüllten Welt voller Erzeugnisse ihrer selbst - Natur gerät mehr und mehr in Vergessenheit. All diese "Werke" entstammen einem dem Menschen ureigenen Wirklichkeitswahn - dem Wahn nämlich, daß die Welt nicht gut genug für ihn ist und er sie dehalb verbessern muß. Was aber hat all der Fortschritt, was haben all jene sogenannten Verbesserungen am Wesen der Menschheit, am allgemeinen Befinden der Spezies geändert? Ich sage: Bestenfalls nichts! Bestenfalls deshalb, weil ich, obwohl es nicht nachzuweisen ist, davon ausgehe, dass der Mensch heutzutage trotz oder gerade wegen aller Fortschritte noch mehr leidet, als es ihm von Natur aus schon bestimmt ist. Zwar sehe ich alles Leben als Verirrung und Fehlentwicklung eines blinden Daseinswillens an, der sich zuerst in anorganischer, dann fatalerweise auch organischer Form manifestiert hat, womit bereits klar wäre, dass das Leben prinzipiell etwas ist, was besser nicht da wäre und somit jeder Mensch unausweichlich zum Leiden bestimmt ist - jedoch bedeutet dies nicht, dass man nicht trotzdem des Schlechten noch mehr erschaffem kann, als schon ist. Und in dieser Disziplin haben die Menschen sich seit jeher selbst übertroffen.
Der Begriff der Selbstverwirklichung, welcher im allgemeinen sehr positiv, bei mir jedoch absolut negativ belastet ist, trägt schon den Kern jenes Wirklichkeitswahns in sich, denn Selbst-Verwirklichung schließt immer schon mit ein, dass der Egoismus an erster Stelle steht, die Verwirklichung der eigenen Pläne oberste Priorität genießt und alle eventuellen Folgeschäden an anderen und sogar an sich selbst ignoriert werden. Das geht nun im Alltag jedes noch so unbedeutenden Menschen los, welcher dem Dogma des allgemeinen gesellschaftlichen Selbstverwirklichungszwangs unterliegt und nur an sich selbst, nicht an andere denkt; und summiert sich schließlich zu jenem Gattungsegoismus, der die Menschheit zur Krone zur Schöpfung erhoben hat. Der Grad der individuellen Selbstverwirklichung wird umso fataler, je mehr der Wirklichkeitswahn des Betroffenen über seine eigene Grenzen hinaus auch andere beeinflusst, wie etwa beim Manager eines Weltkonzerns oder beim ranghohen Regierungsmitglied.
Der umstrittene Künstler Jonathan Meese bezeichnet Adolf Hitler als den größten Selbstverwirklicher aller Zeiten - was nur ein Skandal ist, wenn man, wie die meißten, den Begriff Selbstverwirklichung positiv bewertet. Wenn man aber Selbstverwirklichung als Wahn ansieht, trifft Meeses Behauptung den Nagel auf den Kopf. Denn was Hitlers "Karriere" besonders "auszeichnet" ist, dass er schon vor seiner Wahl zum Reichskanzler überhaupt keinen Hehl aus seinen Zielen gemacht hat, er hat vielmehr ganz offen verkündet, er wolle alle Parteien aus Deutschland hinausfegen, die alleinige Macht übernehmen, den Militärapparat aufrüsten, ein autoritäres Regime errichten, ja selbst über seine Pläne für Andersdenkende und Minderheiten wie insbesondere die Juden sprach er offen. Die theatralische Wirkung seiner Auftritte verstärkt noch den negativen Begriff der Selbstverwirklichung, wenn man bedenkt, dass er all dies später bis zur letzten Konsequenz durchgezogen und sogar noch übertroffen hat, indem er am Ende auch das deutsche Volk vernichten wollte. Vielleicht war es auch gerade sein grotesk übertriebenes Auftreten vor der Machtergreifung, dass in gewissem Maße zu einem "der-kann-das-nicht-ernst-meinen"-Denken verführte und ihn somit bei vielen als Spinner aussehen ließ, der bald von der Bildfläche verschwinden würde. Doch der Selbstdarsteller wurde von der Bühne hinuntergezerrt und auf den Thron verfrachtet, von wo aus er nun seine Wahnideen in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Es gab unzählige große Selbstverwirklicher vor und nach ihm - was sie alle vereint ist der fatale Wahn, noch den letzten Gedanken zum Gesetz der Außenwelt machen zu müssen, und der Erflog, den sie damit bei den Massen erzielten.
Dem Wirklichkeitswahn entgegenzusetzen ist nur die Erkenntnis, dass unser Leben im Grunde einem Traum gleicht und dass nichts für sich genommen eine objektive Wirklichkeit hat, also immer nur für das Subjekt existiert. Unser Bild von der Außenwelt wird uns über Sensoren vermittelt, die wir Sinne nennen und was wir vor uns sehen, sehen wir bei genauerer Betrachtung nicht vor uns, sondern in uns, also in unserem Gehirn, womit man die Welt schlechthin als Gehirnphänomen bezeichnen kann. Warum also am Traum herumbasteln? Warum das Drehbuch eines Filmes ändern, wenn der Film doch sowieso ein Abbild der Realität ist und nicht mehr, falls es so etwas wie eine objektive Realität überhaupt gibt, was aus unserer subjektiven Sicht weder bewiesen noch abgestritten werden kann. Wieso konnte der Mensch nicht von Anfang an ein simples, schweigsames, zurückhaltendes Leben in der Einöde führen? Wieso mußte er die Welt mit seinen ach so tollen Erzeugnissen zustellen und verschandeln? Weil er der geborene Selbstverwirklicher ist und vom kleinsten bis zum größten Exemplar immer nur ein Ziel kennt: sich der Außenwelt mitteilen, die Welt beeinflussen, sie gestalten... - den Wirklichkeitswahn zur Wirklichkeit machen!
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