Keine Liebe, kein Glaube
Die Tagebücher der Mutter Teresa zeigen eine von tiefen Zweifeln erfasste Christin
Die Publikation der Briefe und Aufzeichnungen von Mutter Teresa ist ein Wagnis, eine Wette mit hohem Einsatz und ungewissem Ausgang. Eine moralische Ikone des 20. Jahrhunderts, die größte christliche Gestalt unserer Zeit, wird in ihrer Gottferne und spirituellen Dürre gezeigt, in einer jahrzehntelang anhaltenden religiösen Krise, die bis an die Grenze des Unglaubens und des Nihilismus reicht. »Wofür arbeite ich?«, heißt es in einer Notiz aus den späten 1950er Jahren. »Wenn es keinen Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele gibt, dann, Jesus – bist auch Du nicht wahr. – Der Himmel, welche Leere.« Die Veröffentlichung dieser Ketzereien ist keine feindselige Enthüllung, sondern kommt aus dem Herzen der Orthodoxie selbst; Herausgeber ist der »Postulator« im Heiligsprechungsprozess von Mutter Teresa, ihr Anwalt vor den vatikanischen Prüfungsinstanzen. Denn das ist die Wette: dass die Offenbarung ihrer Zweifel und Seelenfinsternisse ihr Ansehen nicht ruiniert, sie nicht als Heuchlerin bloßstellen wird, sondern im Gegenteil sie zu einer menschlicheren, glaubwürdigeren, radikaleren Heiligen macht, in den Augen der Kirche – und der kirchenfernen modernen Welt.
Die Lektüre ist atemberaubend – nicht erst, wenn man die Zeit um 1950 erreicht, in der die Glaubensnot beginnt. Mutter Teresa, 1910 im albanischen Skopje als Gonxha Agnes Bojaxhiu geboren, war 1928 in den Orden der Loreto-Schwestern eingetreten und bald darauf als Missionarin nach Indien gegangen, wo sie in Kalkutta an einer Klosterschule unterrichtete. Am 10. September 1946 erlebte sie während einer Zugfahrt eine mystische Begegnung mit Jesus, der sie aufforderte, »alles aufzugeben und Ihm in die Slums zu folgen – um Ihm in den Ärmsten der Armen zu dienen«. Das Dasein in ihrem Orden war noch zu bequem, zu europäisch, sie sollte wie eine Inderin unter den Elenden und Ausgestoßenen der indischen Gesellschaft leben, den Bettlern, Straßenkindern, Leprösen und Sterbenden.
In den folgenden beiden Jahren betreibt sie mit nimmermüder Energie, man möchte sagen: mit heiliger Penetranz diese Sache. Sie liegt ihrem Beichtvater und ihrem Bischof mit immer neuen Gesuchen in den Ohren. Zwei Jahre sind, wenn man an die mit erhabener Langsamkeit mahlenden Mühlen der römischen Kirche denkt, keine lange Zeit, um aus einem Orden auszuscheiden und eine neue Gemeinschaft, mit einer ganz neuartigen pastoralen Aufgabe, zu gründen. Teresa aber kommt es wie eine Ewigkeit vor, wie die dauernde Verweigerung eines Wunsches des Herrn, den sie mit geradezu körperlicher Dringlichkeit spürt. Jesus »dürstet nach Seelen«, ist ihr mystisches Bild für dieses Verlangen, in dem sich das Bild des Gekreuzigten mit dem Schicksal der Massen verbindet, die Christus nicht kennen und verloren zu gehen drohen. Sie will nicht Sozialarbeit machen, auch nicht einfach bloß Gutes tun, nicht einmal nur Menschen zu Gott führen – sie will den Durst Jesu stillen.
Diese beispiellos intensive, bald innige, bald ekstatische Jesus-Beziehung ist die Folie, vor der man die geistliche Erschöpfung ihrer zweiten Lebenshälfte sehen muss. Sobald Teresa ihr Ziel erreicht hat und die Missionaries of Charity gegründet sind, mit denen sie die Mutter Teresa werden sollte, ist das Licht von oben auf einmal wie ausgeknipst, die Glut erloschen. Während der Messe empfindet sie nichts mehr, beim Gebet bewegt sie nur noch die Lippen, in der Beichte bringt sie nichts heraus. »In meinem Innern ist es eiskalt«, schreibt sie an ihren Bischof oder: »abgewiesen – leer – kein Glaube – keine Liebe – kein Eifer. – Die Seelen ziehen mich nicht mehr an – der Himmel bedeutet nichts mehr – für mich schaut er wie ein leerer Platz aus.« Einmal, im Herbst 1958, kehrt das alte Verschmelzungsgefühl mit Gott zurück – nur um nach wenigen Wochen wieder zu verschwinden, jetzt endgültig: »Unser Herr meinte, es sei besser für mich, im Tunnel zu sein – so ist Er also wieder gegangen – und hat mich allein gelassen.«
So, in diesem Zustand, hat sie weitergemacht , ihren Orden wachsen sehen, Weltruhm gewonnen, 1979 den Friedensnobelpreis erhalten, immer weiter, bis zu ihrem Tod 1997. Als sei die ganze stärkende, beglückende Gottesnähe nur bis zur Etablierung des »Werks«, wie sie es oft nennt, nötig gewesen und überflüssig geworden, als das Kind auf die Welt gebracht und lebensfähig war – ein erhabener, schrecklicher Fall von Benutzung durch das Überirdische.
Vor ein paar Tagen hat der Papst über das »Schweigen Gottes« gegenüber seiner treuen Dienerin gesprochen, bei einer Begegnung mit jungen Leuten im italienischen Marienwallfahrtsort Loreto. Benedikt XVI. hat sich kurz und würdig vor diesem Schicksal verbeugt – und dann über das Gegenteil geredet, die Klarheit und Erkennbarkeit Gottes, seine sichtbaren Spuren in der Schönheit der Schöpfung, der festlichen Liturgie, der geistlichen Musik von Bach, Händel und Mozart. Hier der Papst des »Logos«, der harmonischen Theologie und der Ästhetik der lateinischen Messe, dort die spirituell ausgebrannte, von Jesus wie weggeworfene Heilige der Slums von Kalkutta – das ist wie ein Bild für den ganzen Bogen des Katholischen, und auch davon handelt die Wette: dass es zusammenhält, dass es am Ende kein Widerspruch ist, sondern die Tag- und die Nachtseite ein und desselben Glaubens.
Mutter Teresa selbst fragt sich, ob sie zur Lügnerin wird und der Welt etwas vorspielt. Aber niemand, der diese Aufzeichnungen mit wachen Sinnen aufnimmt, wird den Eindruck der Falschheit oder Fassadenhaftigkeit haben: der Gott, dessen Nähe sie nicht mehr spürt, hört nie auf, für sie Realität zu sein, letztlich die einzige Realität. Die Sehnsucht nach dem abwesenden Herrn verschwindet nicht, und sie zweifelt nicht daran, dass Jesus, von dem sie sich verlassen sieht, ihre Missions- und Nächstenliebedienste tatsächlich trägt, dass er ihr wirklicher Auftraggeber ist. Es ist wie die Geschichte einer Ehe, die ihren Wert und ihre Größe und sogar ihre Wahrheit nicht verliert, wenn das Gefühl verschwunden ist, das sie einmal begründet hat. Und wie die Geschichte einer solchen Ehe kann man auch die von Mutter Teresa und ihrem Gott als Tragödie lesen oder als Triumph.