AW: Persönliche Gedanken zu den Tageslosungen
Teil 8:
7. Der Umgang mit der historischen Wahrheit
Von Herbert Schnädelbach
Oben war von der besonderen Bedeutung des Matthäusevangeliums für den christlichen Antijudaismus die Rede; es ist überdies ein bemerkenswertes Beispiel für den Umgang der frühen Christenheit mit der historischen Wahrheit, denn der Bericht von der Selbstverwünschung der Juden ist ja nicht die einzige strategische Erfindung, die sich im Neuen Testament findet. Unter den Evangelien tut sich dabei das Matthäusevangelium besonders hervor; ihm ist fast jedes Mittel recht, den Judengenossen Jesus als den wahren Messias vor Augen zu stellen.
Zu diesem Zweck wird das Alte Testament geplündert, und was sich dort in irgendeiner Weise als messianische Verheißung auffassen lässt,
wird dann in der Biografie Jesu als erfüllt behauptet - nach dem Schema: "Auf daß erfüllet werde die Schrift ...". So wurde Jesus wegen Micha 5, 1 in Bethlehem geboren, wegen 4. Mose 24, 17 musste da ein Stern aufgehen, wegen Psalm 72, 10 und 15 und Jesaja 60, 6 mussten die Weisen aus dem Morgenland kommen, und wegen Hosea 11, 1 musste die Heilige Familie nach Ägypten geflohen sein. Jeremia 31, 15 ist die Raison d'Être des Bethlemitischen Kindermordes - eines unfassbaren Ereignisses, dessen sich nach zwei Generationen die Zeitgenossen bestimmt noch erinnert hätten, handelte es sich dabei nicht um eine dreiste Fiktion. Dass der sterbende Jesus Worte des Alten Testaments zitiert habe, könnte wahr sein, aber dass in seiner Sterbestunde der Vorhang im Tempel zerrissen sei, die Erde gebebt habe und Tote den Lebenden erschienen seien (Matthäus 27, 51 ff.), dafür gäbe es ganz sicher unabhängige Zeugen, wäre dies nicht auch eine Legende. Das Ganze verliert dort aber endgültig seine Unschuld: "... sondern der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; und dieser weiß, daß er die Wahrheit sagt, auf daß ihr glaubet" (Johannes 19, 34 f.). Hier wird absichtlich und zweckrational gelogen: Es wird etwas berichtet als eine weitere Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen mit der ausdrücklichen Beteuerung der Wahrheit, die im Fall der schlichten Wahrheit entbehrlich wäre.
Bestimmte Neutestamentler werfen einem an dieser Stelle Naivität und unhistorisches Denken vor; wir sollen also so unnaiv sein zu glauben, die Evangelisten hätten eben ein naives Verhältnis zur historischen Wahrheit gehabt. Darauf sei es ihnen gar nicht angekommen, sondern sie hätten überlieferte Jesusworte aufgenommen und daran Wundergeschichten angelagert - und Wunder seien damals nichts Besonderes gewesen; was hätten sie denn sonst predigen sollen als Worte des Alten Testaments? Nun, gerade das Lukasevangelium bemüht sich um eine Lokalisierung des Jesus-Geschehens in der profanen Geschichte, und es widerspricht der Lehre von der Fleischwerdung Gottes, das Fleischgewordene in lauter Fiktionen aufzulösen. Jesus muss darum eine historische Figur gewesen sein, und denen, die über ihn berichteten, war der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bekannt. Wie konnten sie dann glauben, historische Unwahrheiten taugten besonders zur Verbreitung der christlichen Wahrheit.
Der strategische Umgang mit der historischen Wahrheit um einer höheren Wahrheit willen ist ein Erbübel des verfassten Christentums. Da haben die Evangelisten Tatsachen erfunden, und bis in unsere Tage war es Christen streng verboten, sie auch nur zu bezweifeln. Die Geschichte der rationalen Bibelkritik seit der frühen Neuzeit zeigt, wie das starre Festhalten an den biblischen Tatsachenwahrheiten die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft insgesamt beschädigte. Noch heute versuchen die Amtskirchen, die theologische Aufklärung des Kirchenvolkes zu verhindern. Das ist sogar verständlich,
denn was bleibt vom "Kern" des Christentums übrig, wenn man seine fiktiven Schalen entfernt? Was bleibt von der Auferstehung, wenn man das leere Grab auf sich beruhen lässt? Paulus sagt: "Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden aber auch erfunden als falsche Zeugen Gottes, daß wir wider Gott gezeugt hätten, er hätte Christum nicht auferweckt ..." (1. Korinther 15, 14 f.). Predigt und Glaube dürfen aber nicht vergeblich und das Zeugnis darf nicht falsch gewesen sein, also war das Grab leer.