AW: Gedanken zur menschlichen Würde
Hallo Roberto,
...Es ist natürlich zuzustimmen, daß der erste Auftrag in dieser Frage, an den Staat gerichtet ist. Und doch bleibt diese Begrifflichkeit zu abstrakt. Reicht es aus, wenn der Einzelne sein ehrabschneidendes Verhalten damit rechtfertigt, daß der Staat ja einzig und alleine damit betraut wurde, Würde walten zu lassen.
Ich halte gerade die Begrifflichkeit des Gestaltungsauftrages für einigermaßen griffig, zumal die Schlussfolgerung an dieser Stelle - nämlich dass der Gestaltungsauftrag des Staates zugleich das Individuum vom Ideal der Würde entbinde - wieder aus dem Zusammenhang gerissen ist. Vielmehr geht der Gestaltungsauftrag vom Volk aus, der Staat muss - ohne hierfür entschädigt zu werden - demnach dafür sorgen, dass jeder einzelne Mensch das Ideal der Würde, für sich und für andere, umsetzen kann.
Wir sprechen nicht von zwei differenten Dingen, sondern betreiben ein Schisma, welches trennt, was zusammengehört. Der Würdebegriff ist nicht Auftrag oder Verhaltensanweisung, denn beides stellt sich als Einheit dar.
Es geht mir weniger darum, begriffliche Haarspalterei zu betreiben. Ich halte es aber für bedeutsam, Begriffe nicht allein als rhetorisches Stilmittel zu nutzen, sondern auch inhaltlich auf selbige in ausreichendem Maße einzugehen.
Mag sein, dass Auftrag und Verhaltensanweisung ähnliche Beweggründe haben, nämlich ein würdevolles menschliches Miteinander zu gewährleisten, allerdings steht der Würdebegriff - so meine Meinung - durchaus für jene Ziele/Ideale; er markiert einen Zustand des menschlichen Miteinanders, der, gemessen an dem Wertempfinden der Menschen in ihrer Zeit, ein Würdeempfinden jedes Individuums im sozialen Miteinander ermöglicht.
Vollkommen pragmatisch wird hier an die Sache herangetreten. Hier werden die Pfade der Philosophie, die immer auch, gerade in gesellschaftlichen Fragen, einen Bruchteil der Utopie in sich bergen, verlassen. Die Welt wie sie ist, nicht wie sie sein muß, wird zum Maßstab erhoben. So, als habe die menschliche Imaginationsfähigkeit endgültig abgewirtschaftet, nachdem sich historisch jüngere Utopien als eine „Farm der Tiere“ erwiesen.
Sprechen wir den Menschengeschlecht ab, fähig zu sein, absolute Identität zu ihrer Gattung zu hegen, so stehen Menschenrechte und Würdebegrifflichkeiten als vergebene Liebesmühen im Geschichtsbuch. Freilich, wenn Würde nicht antastbar wäre, würden wir keinen Auftrag und keine Verhaltensanweisung in diese Richtung brauchen. Doch alle Gesetzgebung vereint Utopie in sich: Die Vision, sich eines Tages dieser Gesetze entledigen zu können. Hierbei spielt Realismus nur eine untergeordnete Rolle.
Wird das Postulat der apriorischen Würde verworfen, stellt sich die Frage, wie man sonst an der Würde teilhaben kann. Etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Nation? Welch trauriges Resümee dies wäre, welch Rückschritt in vergangene Tage trister Menschheitsgeschichten.
Ich bin weder Idealist noch Realist und lasse mich auch ungerne in solcherlei Schubladen sperren. Die Philosophie ist jedoch gewiss mehr - meiner Ansicht nach auch in der Hauptsache mehr - als nur das Ausmalen von Utopien. Utopien und damit verbunden Idealvorstellungen sind gewiss wichtig und ein fester Bestandteil des Menschen, aber sie können dann gefährlich sein, wenn sie nicht mit der steten Bemühung einhergehen, konkreten Bezug zum Sein und zu den direkt erfahrbaren Seinsbedingungen zu halten.
Die Imaginationsfähigkeit darf nicht mit der Fähigkeit zur Utopienbildung vermengt werden, so braucht es allerdings sehr viel an Imaginationskraft, um selbst die scheinbar naheliegensten Sachverhalte halbwegs passabel zu erfassen. Die Begriffe ansich, die in abertausenden Geschichtsbüchern weilen, sind vermutlich leblos, wichtig ist das Begriffsverständnis, der gelebte Begriff also - und je mehr Lebensbezug dabei geschaffen wird, desto eher nähern wir uns womöglich dem an, was zu Anfang nur eine Utopie, eine Vorstellung fern der ehemaligen Tatsächlichkeit, war.
Wie du in diesem Zusammenhang auf die Nation kommst, ist mir schleierhaft; zumal ich stets bemüht bin, die Wichtigkeit des individuellen Gesichtspunktes zu betonen.
Beste Grüße,
Philipp