AW: Gedanken zur menschlichen Würde
In mir keimt der Verdacht, dass wir den Begriff des „Gestaltungsauftrages“ verschieden begreifen. So sehe ich darin den Auftrag an den Staat, die Menschenwürde zu gewährleisten. Wäre es möglich, dass hier eine Deutung des Gestaltungsauftrages als Verhaltensanweisung gemeint ist?
Es mag in der Tat so aufgefaßt worden sein, daß in meinen Zeilen bestenfalls eine Verhaltensanweisung vorzufinden war. Wie verächtlich dieses „bestenfalls“ klingt, denn wahr ist auch, daß jedes Bekenntnis zur menschlichen Würde, direkt oder indirekt, einen Auftrag oder einer Anweisung gleichkommt. Es ist natürlich zuzustimmen, daß der erste Auftrag in dieser Frage, an den Staat gerichtet ist. Und doch bleibt diese Begrifflichkeit zu abstrakt. Reicht es aus, wenn der Einzelne sein ehrabschneidendes Verhalten damit rechtfertigt, daß der Staat ja einzig und alleine damit betraut wurde, Würde walten zu lassen.
Wir sprechen nicht von zwei differenten Dingen, sondern betreiben ein Schisma, welches trennt, was zusammengehört. Der Würdebegriff ist nicht Auftrag oder Verhaltensanweisung, denn beides stellt sich als Einheit dar.
Ich halte es für problematisch, dass hier die „Vorab-Würde“ postuliert wird. Die „Gleichheit von Mensch zu Mensch“ lässt eine völlige Identität der Individuen vermuten, wobei Feuerbachs Aussage wohl in erster Linie die Gattung des Menschen und nicht die Individualität des Menschen meinen dürfte.
Vollkommen pragmatisch wird hier an die Sache herangetreten. Hier werden die Pfade der Philosophie, die immer auch, gerade in gesellschaftlichen Fragen, einen Bruchteil der Utopie in sich bergen, verlassen. Die Welt wie sie ist, nicht wie sie sein muß, wird zum Maßstab erhoben. So, als habe die menschliche Imaginationsfähigkeit endgültig abgewirtschaftet, nachdem sich historisch jüngere Utopien als eine „Farm der Tiere“ erwiesen.
Sprechen wir den Menschengeschlecht ab, fähig zu sein, absolute Identität zu ihrer Gattung zu hegen, so stehen Menschenrechte und Würdebegrifflichkeiten als vergebene Liebesmühen im Geschichtsbuch. Freilich, wenn Würde nicht antastbar wäre, würden wir keinen Auftrag und keine Verhaltensanweisung in diese Richtung brauchen. Doch alle Gesetzgebung vereint Utopie in sich: Die Vision, sich eines Tages dieser Gesetze entledigen zu können. Hierbei spielt Realismus nur eine untergeordnete Rolle.
Wird das Postulat der apriorischen Würde verworfen, stellt sich die Frage, wie man sonst an der Würde teilhaben kann. Etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Nation? Welch trauriges Resümee dies wäre, welch Rückschritt in vergangene Tage trister Menschheitsgeschichten.
Das hier beschriebene Verständnis des Gestaltungsauftrages basiert – vermutlich – auf der Vorstellung, dass es einen „wahren ethischen Menschen“ gebe, der, kraft seiner gestalterischen Befähigungen, den Würdebegriff – der ja beinahe verloren gegangen wäre - vor dem zwischenmenschlichen Konflikt (Alkoholiker vs. Normalmensch) errettet. Dieser gestalterische Eingriff werde des weiteren gefühlsmäßig bestimmt, was wiederum in der Vernunft münde. Diesem Gedankengang vermag ich so nicht zu folgen, er scheint unschlüssig.
Jenen, der hier als „wahrer ethischer Mensch“ bezeichnet wurde, der bei Thoreau und im Transzendentalismus als
hero tituliert ist, erlaube ich mir als idealstisches Bild. Dabei bleibt nicht ausgeschlossen, daß es kein Absolut in ethischen Fragen geben kann, somit kein absolutes ethisches Wesen. Ein Gemeinwesen voller reiner Moralaposteln widerspricht der
conditio humana ebenso, wie es nicht erwünscht sein kann. Dieses Land kennt Staatswesen zur Genüge, die gefüllt waren mit reinen und unbefleckten Bürgern, die sich, mit Sorge um die Moral, an Staatsstellen wandten, um ihr Land sauberzuhalten.
Doch impliziert dieser Idealismus, daß die menschliche Fähigkeit besteht, Erkenntnisse zu erzielen, Einsichten zu erhalten. Entfernen wir uns davon, so degradieren wir die Menschheit zur unmündigen Schafsherde, die ewig die Wiese der Unmündigkeit abfressen soll.
Soll Gesetzgebung also nicht in der Art greifen, daß Menschen sich eines Tages so damit identifizieren, daß staatlicher Eingriff nicht - oder zumindest nur noch kaum - nötig zu sein hat?
Die "Würde" ist untrennbar vom "Sieg" über den "Feind";
"Würde" hat einer auch nicht von sich aus, "Würde" muß er sich durch Verdienst erwerben: je mehr "Feinde" einer überwunden hat, desto "würdiger" ist er. Tötung ist dabei ein Verdienst. Lach nicht. Es ist kaum hundert Jahre her, daß man in Mitteleuropa genau so gedacht und gefühlt hat.
Zunächst scheint nicht ersichtlich, ob die Ansicht, wonach Würde zu verdienen sei, heute immer noch maßgebend ist. Bejaht der Verfasser dieser Zeilen dies, so spricht er sich – wissentlich oder unwissentlich – für eine gestaffelte Würde, gemessen an Einkommen, Herkunft, Können und Wissen aus. Hier schließt sich die Würde des Menschen aus, um der Würde des Verdienstvollen Tür und Tor zu öffnen. Würde wird zum Verhandlungsobjekt erhoben.
Die Anspielung auf die historische Umsetzung dieser Würdenauffassung, die zeitlich noch in bester Erinnerung sei, kann nur teilweise zugestimmt werden. Denn dies impliziert, daß die Würde für jedermann, eine Idee der letzten Jahrzehnte sei. Wie aber sollen wir dann die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bewerten? Oder ist nicht eher die Menschenverachtung des Faschismus als Anachronismus zu betrachten, als letztes realpolitisches Aufbäumen derer, die die Menschheit weiterhin gespalten sehen wollten?
Im Raume schwebend bleibt auch, ob die Massen der mitteleuropäischen Länder wahrlich an der verdienstvollen Würde ihr Heil zu finden wagten. Denn unübersehbar ist eben auch: Die wenigsten Menschen erlangen es in ihrem Leben, Verdienste einzufahren. Sie gingen an der oben angesprochenen Würdebegrifflichkeit zugrunde.
Die Väter des Grundgesetzes schrieben den Satz, daß die "Würde des Menschen unantastbar" sei, demselben Volk ins Gesetzbuch seiner nationalen Ethik, das noch fünf Jahre zuvor bereitwillig Menschen abschlachtete, die aufgrund einer ebenso zufälligen wie willkürlichen, anderen nationalen Ethik als unwürdig betrachtet wurden.
Das Grundgesetz sollte den NS-Staat nicht vergessen machen, wenngleich im politischen Alltag genau so agiert wurde. Doch sollte es einen weiteren totalitären Staat verhindern. Artikel 1 ist demnach keine Heuchelei, sondern die Einsicht, zukünftig Würde nicht mehr nach dem Deutschsein, sondern nach dem Menschsein zu verleihen. Demnach jedem, der sich Mensch nennen kann – vorab also. Der erste Artikel ist dementsprechend Notwendigkeit nach dem Grauen, welches hierzulande industriell betrieben wurde.
Daß Menschen so etwas wie eine "unantastbare Würde" haben könnten, fiel in Deutschland erst auf, als ein paar andere von außen kamen, die darauf hinwiesen, daß es mit der industriellen Massenvernichtung vielleicht doch nicht so ganz okay wäre.
Eine Kollektivverurteilung, die bar jeglicher Grundlage ist. War ein ganzes Volk blind oder lediglich machtlos? Stimmen von außen mahnten natürlich die Menschenverachtung an, aber es war nicht so, daß es innerhalb des NS-Staates keine Verurteilung des Rassenwahns gab. Große Namen stehen in einer Galerie, die sich wider Hitler einfand: Thomas Mann, Martin Niemöller, Kurt Schumacher und weitere.
"Die Deutschen" - als Kollektivbegriff, der mir schwer über die Lippen kommt - suhlten sich wahrlich nicht in ihrer eigenen, kleinbürgerlichen, nationalen Ethik. Sicher, Viele fühlte sich in diesem Schlamm wohl, wie eben Schweine sich gerne im Schlamm wälzen. Doch die Stimme der Vernunft war - klassenübergreifend - nicht verstummt.