AW: Friedrich Nietzsche
das lesen dieses stranges hatte doch schon etwas von einer zeitreise. er spiegelt so ungefähr den stand der Nietzscherezeption, die vor so zwanzig jahren weit verbreitet war.
es gab da allerdings inzwischen einen erfreulichen wandel.
nun alles aufzudröseln, wäre einfach zu mühselig. daher werde ich einfach ungeordnet einiges aufzählen, was mir wichtig scheint.
im gegensatz zu Schopenhauer, der bekanntlich ein praktizierender hagestolz war, ist der bekannte satz mit der peitsche bei Nietzsche mehr oder weniger lediglich ein habitus. wie jemand, dessen name mir gerade nicht einfällt, einst sinngemäss schrieb,
griff Nietzsche anfänglich nicht nur jede idee Schopenhauers auf sondern trieb sie auch auf die spitze. die behauptung er hätte sie auch jeweils “durchlitten”, halte ich allerdings für eine übertreibung.
Nietzsches konzept des “Übermenschen” ist ein auf das individuum gerichtetes und hat nichts aber auch gar nichts mit rassentheorien oder ähnlichem unfug zu tun.
die härtesten aussagen zum antisemitismus finden sich bei Nietzsche in seinem abschliessenden streit mit seinem ehemaligen
“Sternenfreund” R. Wagner. auf dessen veröffentlichung “Das Judenthum in der Musik” reagierte Nietzsche mit seiner schrift “Ein Musikanten Problem”. darin findet sich unter anderem die anregung, “Sie” (die antisemtischen schreihälse) “des Landes zu verweisen”.
dabei bleibt zu bedenken, daß der hier gemeinte “Salon Antisemitismus” nur sehr bedingt mit dem später von den nationalsozialisten propagierten vergleichbar ist auch wenn Wagners unsägliche schrift wohl tatsächlich zur lieblingslekteure eines gewissen herrn A. Hitler gehört haben soll. es findet sich darin noch nicht die spur eines vernichtungswillens. die radikalste, darin zu findende forderung war die entfernung von juden aus führenden positionen in akademischen - und künstlerischen institutionen.
neben dem antisemitismus war übrigens auch der “Hornvieh – Nationalismus” Nietzsches denken völlig fremd.
was er hingegen dachte, wird wohl am besten in folgendem abschnitt aus
“Menschliches Allzumenschliches, erster band, achtes hauptstück – „Ein Blick auf den Staat“, deutlich:
“Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen.
Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so daß aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muß. Diesem Ziele wirkt jetzt bewußt oder unbewußt die Abschließung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten.”
am ende bleibt noch festzuhalten, daß Nietzsche, durchaus kein kulturpessimist war.
seine eigentliche bedeutung allerdings liegt heute noch immer darin, daß er zu recht neben Feuerbach als begründer des europäischen agnostizismus angesehen wird.