AW: Wo seit ihr?
@ Lilli.
Das stimmt. Dabei würden wir ebenso behaupten, wir wüssten, was für sie gut ist. Deshalb meine ich, nicht vorgeben, sondern mehr Hilfsmittel zum erkennen mit an die Hand geben, manche nennen es Bildung. Ich meine, es gehört mehr dazu. Vielleicht „gewähren lassen“, vielleicht „angenommen sein“. Gewähren lassen verhindert, dass Widerstände als Samenkorn entstehen. Angenommen sein würde den Nährboden austrocknen, auf dem irgendwann die Widerstande wachsen.
Das andere ist dieser Überblick. Dabei entwickelt jeder seine eigenen Ansichten. Aber es ist relativ leicht, jemanden mit dieser Suche „in Brand zu setzen“. Was er dann tut, ist mir gleich. Und dieser Anschubser, der scheint vielen zu fehlen. Aus reinem nachdenken heraus, ist es m.E. nahezu unmöglich. Das Denken erkennt das leider nicht selbst. Sie brauchen erst eine schwere Krankheit, eine alles in Frage stellende Trennung, Depression, Unfall usw. Ob es hier überhaupt gut ist, den natürlichen Anschubser vorzuverlegen, das weiß ich nicht. So lange ich darauf keine Antwort finde, lasse ich sie mal lieber offen.
(...)
Liebe Grüße
Bernd
Ich versuche einen Anknüpfungspunkt zu finden zu deinen Überlegungen.
Ich erinnere mich an Scharen von jungen Leuten, die damals als Freunde meiner halbwüchsigen (also 15 + 17jährigen) Töchter bei uns daheim aus und ein gingen. Stundenlang bin ich bei denen gesessen und habe mit ihnen über Gott und die Welt diskutiert. Sie haben mir Löcher in den Bauch gefragt, sie wollten einen neutralen Informanten, gar nicht so sehr einen Ratgeber.
Das ist schon so an die 20 Jahre her. Diese Männer und Frauen sind heute zwischen 35 und 40 Jahre alt. Wenn ich sie heute irgendwo treffe, dann sagen sie noch immer "Mama" zu mir.
Ich habe sie geliebt, ich habe ihnen zugehört und sie ernst genommen.
Einer von ihnen war ein Jahr im Gefängnis, er ist, als er entlassen wurde, als erstes zu mir gekommen, um mir Geld, das ich ihm vorher geliehen hatte, zurückzubringen. Er saß da und weinte, weil er seine leibliche Mutter so sehr enttäuscht hatte und nicht wusste, wie er ihr sagen sollte, dass es ihm leid tut.
Ich fühlte mich immer sehr geehrt durch das Vertrauen, das mir diese jungen Menschen entgegenbrachten. Es waren vor allem solche, die von den "anständigen" Bürgern unseres Dorfes als Rowdies und Krawallmacher beschimpft wurden. Bis auf zwei, die durch Autounfällen ums Leben kamen, haben sich alle zu eigenständigen und liebenswerten Menschen weiterentfaltet.
Sie waren schon damals fähig, aus so manchen Fehlern, die einer von ihnen machte, zu lernen. Sie redeten miteinander, weil sie bei mir im Wohnzimmer einen Platz hatten, wo nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde. Ich habe auch nie versucht, sie zu "erziehen". Ich habe ihnen weder verboten, zu rauchen, noch Bier zu trinken. Meine Schnapsvorräte habe ich allerdings weggeräumt.
Ich glaube, da ist so eine Atmosphäre der Annahme und des Verständnisses entstanden, wo es nicht nötig war, sich gegen den Druck der Erwartungen wehren zu müssen. Ich hatte so eine Art Ventilfunktion.
Dazu muss ich noch erklären: Ich bin ausgebildete Heimerzieherin für Kinder von 6 - 18 Jahren, mit Schwerpunkt "schwererziehbare Kinder", wie das damals schrecklicherweise genannt wurde. Ich habe in meinem Beruf nur sehr kurz gearbeitet, weil ich sehr schnell selbst Kinder bekam. Aber meine Liebe gilt heute noch den schwierigen Jugendlichen, die keiner verstehen kann.
Meine Erfahrungen bestätigen deine Gedanken.
In einem Klima, wo man nicht einer Dauerkritik ausgesetzt ist, entsteht sowas wie ein echtes Gespräch, ein wirklicher Gedankenaustausch. Ich war oft sehr verblüfft, welche Themen die jungen Leute hier auf den Tisch brachten und wie sie über reine Blödeleien zu hochphilosophischen Überlegungen fanden.
Ich war dabei wie eine von ihnen, ich hatte nur viel mehr Informationen, die ich ihnen für manches, was sie wissen wollten, liefern konnte.
Oh Bernd, ich danke dir, dass du durch diesen Thread meine Erinnerungen an diese Zeit wiederbelebt hast. Am Mittwoch ist mein Wirtshaustag, da treffe ich sicher den einen oder anderen von meinen ehemaligen "Kindern".
herzlich
lilith