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Wie objektiv kann Geschichtsschreibung sein?

Miriam

New Member
Registriert
26. Juni 2005
Beiträge
9.722
In der Hoffnung, dass ich dieses Thema hier im richtigen Unterforum eröffne...

Als ich mich mit dem Thema der Memoiren von Helmut Kohl befasste, aber hauptsächlich durch die Antworten auf meinen Beitrag (in erster Linie die von Ziesemann), habe ich mir die Frage nach der Objektivität der Geschichtsschreibung gestellt.
Wie objektiv ist die uns überlieferte Geschichte? Gibt es so etwas überhaupt? Die Frage ist so vielschichtig, denn wie steht es überhaupt mit der objektiven Wahrnehmung? Und ausserdem, was wird bewusst subjektiv überliefert - um nicht zu sagen: gefälscht?

Erlaubt mir eine Anekdote hier zu erzählen, die mich vor ...zich Jahren sehr amüsiert, aber auch nachdenklich gestimmt hat. Leider ist es mir nicht gelungen, die Quelle dieser Geschichte wieder ausfindig zu machen.

Einer der ganz grossen Könige Frankreichs (ich denke es ging um Ludwig den XIV.), liegt im Sterben. Die wichtigsten Persönlichkeiten seines Hofes, sind um ihm versammelt. Er hat sich schon seit einiger Zeit fest vorgenommen, dass seine letzten Worte folgende sein sollten: "Sagt meinem Volke, dass ihr König im Stehen gestorben ist!"
Nun, er fühlt, dass seine letzten Augenblicke nahen, versucht sich aufzurichten, schafft es aber nicht, nichteinmal mit Hilfe seiner Vertrauten. Und so hört man ihn sagen mit einer doch noch festen Stimme, aber im Liegen: "Sagt meinem Volke, dass ihr König im Stehen gestorben ist..."

Ja, damals lachte ich über diese schöne Pointe. Aber jetzt frage ich mich, wieviel Wahres ist in dieser Geschichte?
Gibt es überhaupt Kriterien der objektiven Geschichtsschreibung?

Wie gesagt, es sind mindestens zwei Ebenen, die berücksichtigt werden sollten: die der Wahrnehmung, und andererseits, die der bewusst falschen Überlieferung.
 
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Geschichte als Nacherzählung ist und bleibt beliebig,
da sich jeder Autor bedienen kann,
wo und wie er will

Geschichte als evolutionäres Geschehen ist nicht beliebig,
da hier zu viele Faktoren eine Rolle spielen,
die zusammenpassen müssen
(Umweltgeschichte, Technikgeschichte, politische Geschichte, Kunstgeschichte, Symbolgeschichte, Denkgeschichte)
 
Ohne jetzt mich fachwissenschaftlich zu verbreitern: eine Gegenfrage: Warum soll Geschichtsschreibung objektiv sein? Sie ist immer - sogar bei der Berücksichtigung der gleichen Faktenwahrheit - vom Weltbild des Verfassers geprägt; sei es ein mittelalterlicher Mönch, der Annalen verfasste, sei es ein neuzeitlicher Historiker. Und es soll dieses, sein Weltbild - diese spezifische Sicht der Welt urteilend festigen
Das wissen die modernen Historiographen auch und versäumen in wissenschaftlichen Werken nie, die Gegenpositionen anzuführen - zum Teil natürlich mit heftigen Polemiken.


Also: Warum soll Historiographie objektiv sein ? Was verstehst Du überhaupt unter Objektivität in den Geisteswissenschaften? Dieser Begriff ist an sich philosophisch veraltet - nebenbei bemerkt. Spätestens die Neurobiologieerkenntnisse haben gezeigt, dass dieses Idealkonstrukt nur eine Schimäre ist.

Da schweige ich von den offensichtlichen Machtbeklatschern, die jede Diktatur sich hält. In der SU wurde alle paar Jahre eine neue " Plattform" vom ZK bestimmt, die die Erklärung der Welt aus historischer Sicht für alle SU-Bürger " gleichschaltete. Immer wieder irgendwie neu :schleck:



Nur " nicht objektive" von verschiedenen AutorInnen verfasste Geschichtsschreibungen, die jedem Leser zugänglich sind, ermöglicht dem Interessierten ( Fachwissenschaftler und Laien), sich so etwas ähnliches, wie ein komplexeres Bild des beschriebenen Gegenstandes zu machen. Und sogar die Faktenwahrheit ändert sich mit jeder neuen Quelle: Stichwort: Ötzi - neuer Fund - neue Einsichten!


Gerade Geschichte erzieht schon methodologisch zur Toleranz.


Marianne
 
Ich glaube auch, dass es keinen "objektiven" Menschen gab und gibt. Es gibt höchstens etwas von den Machthabern "Objektiviertes". Zum Beispiel: Stehlen ist schlecht und gehört bestraft (als Gesetz objektiviert). Versetzt man sich aber in die Lage eines Katastrophenopfers von New Orleans und man fragt sich (subjektiv), was man wohl selbst in so einer Lage machen würde - ich glaube, die Antwort der meisten Menschen würde lauten: ich würde auch plündern.

Nichtsdestotrotz stimmt aber der Beitrag Scillas, respektive stimme ich ihm zu.

Liebe Grüße

Zeili
 
Nichtsdestotrotz stimmt aber der Beitrag Scillas, respektive stimme ich ihm zu.

dankeschön

ich wollte in meinem Beitrag die Begriffe subjektiv und objektiv nicht verwenden

rein objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht
(objektiv wäre die Prognose augrund eines Gedankenexperimentes)

rein subjektive Geschichtsschreibung gibt es auch nicht
(Marianne wird als Historikerin selbst in Autobiographien objektives finden)

evolutionäre Geschichtsschreibung ist objektiv,
weil der Gegenstand umfassend behandelt wurde

evolutionäre Geschichtsschreibung ist subjektiv,
weil der Autor nicht ständig Gott spielen kann
 
Geschichtsschreibung

Wie oft in ihren Beiträgen hat Miriam mal wieder einen Denkimpuls vermittelt.
Ich selbst habe auch so meine Schwierigkeiten mit „objektiv“ und „subjektiv“, denn ihre Verwendung setzte voraus, dass es eine „objektive Wahrheit“ gibt. Und eine subjektive Wahrnehmung und Darstellung, kann durchaus objektiv richtig sein.
Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, mit Hilfe von Quellen zu beweisen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). Im Gefolge des Historismus erreichte die deutsche Historiographie dabei weltweite Anerkennung. Das Problem beginnt bei der Quellenbewertung und der -Kritik. Wer schrieb was aus welchem Anlass wann und wo für wen? Wie bedeutsam ist der Absender, der Adressat? So sind Autobiographien, vor allem Memoiren von Staatsmännern, stets eine – zurückhaltend formuliert – mit Vorsicht zu genießende Quelle, wollen diese sich doch gegenüber der Nachwelt in das beste Licht rücken.
Den Stellenwert einer Quelle richtig einzuordnen ist die genuine Aufgabe der Geschichtsforscher, was sich beispielsweise an der Kontroverse über die Schuldfrage am Ausbruch des Weltkrieges I zeigte, als Fritz Fischer sein Aufsehen erregendes Werk „Griff nach der Weltmacht“ 1953 vorlegte, in dem er die Alleinschuld Deutschlands nachzuweisen versuchte. Die Historikerzunft reagierte überwiegend ablehnen. Fischer habe z.B. den Einfluss des „Alldeutschen Verbandes“, der allerdings chauvinistische Pamphlete verfasste, maßlos überschätzt und andererseits Dokumente revanchistischer Kreise in Frankreich in seiner Wertung geradezu sträflich vernachlässigt.
Die Deutung geschichtlicher Vorgänge hängt auch von den Fragen ab, die wir an die Geschichte stellen; es sind heute andere als etwa noch vor einem halben Jahrhundert. Jetzt stehen Strukturen an Stelle der handelnden Personen („Männer machen Geschichte“ – Heinrich von Treitschke) im Vordergrund, obwohl das Pendel auch bereits wieder umzuschlagen scheint.
Noch eine Bemerkung zu den Fälschungen. Sie waren im Mittelalter üblich und ihre Urheber, die bestimmten Interessen dienten, hoch geachtet. Die berühmteste ist die angebliche „Konstantinische Schenkung“, nach der Kaiser Konstantin (280-337) dem Papst eine Vormachtstellung gegenüber den weltlichen Herrschern bescheinigt. – Und, kommt jemand aus Hamburg? Der stolze Titel „Freie und Hansestadt“ fußt auf einer Kaiserurkunde von 1189. Sie wurde verfasst nicht in der kaiserlichen Kanzlei sondern – im Hamburger Rathaus. Und so ist der Verfassungsname dieses Bundeslandes eine Fälschung.
Fazit, um Miriams wichtigste Frage zu beantworten: Es gibt keine Kriterien für eine objektive Geschichtsschreibung, wir können Geschichte stets nur multiperspektivisch verstehen, und nur näherungsweise zu zeitweiligen „Wahrheiten“ kommen, aber nicht zu der absoluten, was schon Lessings Nathan wusste.
Doch, um mich nicht in Widerspruch zu meinem eigenen Schlußzitat zu setzen: Lernen kann man schon aus der Geschichte, z.B. dass Menschen stets dazu neigen, Vorgänge bewusst oder fahrlässig in ihrem „erkenntnisleitenden Interesse“ zu deuten.
 
Weiter nachdenken über die Möglichkeit einer annäherenden Objektivierung der Geschichtsschreibung

Wie Ihr alle schon am Titel erkennen könnt: eines habe ich gelern, ich bin in Hinblick auf die Objektivität der Geschichtswiedergabe, bescheidener geworden...
Ich gestehe als erstes, dass dieses ganze Gebiet für mich Neuland ist. Aber es wird wohl auch anderen so gehen, und deswegen denke ich, dass die Diskussion weitergehen sollte, wohl bemerkt: zur Sache schreibend, und nicht zur Person. Ich ergänze es noch: zur Person gehört auch die individuelle Art der Auslegung, und die sollte jedem gestattet sein, so wie derjenige der die Beiträge liest, auch seine Stilrichtungen hat die er bevorzugt, und dadurch Texte gut oder weniger gut findet.

scilla schrieb:
Geschichte als Nacherzählung ist und bleibt beliebig,
da sich jeder Autor bedienen kann,
wo und wie er will

Geschichte als evolutionäres Geschehen ist nicht beliebig,
da hier zu viele Faktoren eine Rolle spielen,
die zusammenpassen müssen

Etwas kompakt ausgedrückt, aber doch sehr gut wiedergebend, wie zwiespältig Geschichtsschreibung und Objektivierung ist.
Für mich ist die so weit wie möglich objektive Geschichtsschreibung auch in Hinblick auf den zweiten Weltkrieg und die Rolle Deutschlands, von grosser Bedeutung. Man lernt ja aus der Geschichte, und die Deutschen haben es großartig bewiesen, dass dies machbar ist. Aber fußt so ein Lernprozess nicht auf eine objektive Wiedergabe der Fakten?

Und Scilla, was du ausdrückst, interpretiere ich nur als die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens, und nicht als Frage nach der Notwendigkeit der Objektivierung.
Damit wäre für mich auch die Frage von Marianne "Warum soll Geschichtsschreibung objektiv sein?" - aus meiner Sicht beantwortet.

Zur objektiven Wiedergabe von Ereignissen, fällt mir immerwieder Primo Levi's "Die Untergegangenen und die Geretteten" ein. Für mich gehört dieses Dokument zur Geschichtsschreibung. Und da kann man fast nicht sagen: ja, aber die Perspektive des KZ-Aufsehers war eine andere...

Ziesemann schrieb:
Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, mit Hilfe von Quellen zu beweisen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke).

Dieses wie es eigentlich gewesen ist, muss doch zu den Bemühungen der Historikern gehören. Und wenn man ausserdem sieht, wie viele Quellen bewusst weggelassen werden, wie sie jahrzehntelang unter Verschluß gehalten werden, wie es oft nur den verrückten Einsatz einzelner Personen zu verdanken ist, dass sie ausfindig gemacht werden, dann weiss man wie viele Möglichkeiten der Manipulation der Geschichte bestehn.

Ziesemann schrieb:
So sind Autobiographien, vor allem Memoiren von Staatsmännern, stets eine – zurückhaltend formuliert – mit Vorsicht zu genießende Quelle, wollen diese sich doch gegenüber der Nachwelt in das beste Licht rücken.

Dies war ja der Anlass hier dieses Thema zu eröffnen - und ich denke, dass jeder Laie wie ich (doch Laien in Bezug auf Geschichtsschreibung sind wohl 99% der Bevölkerung) - erwartet, durch die Memoiren eines bedeutenden Staatsmannes, Wahrheiten zu erfahren.

Ziesemann schrieb:
Die Deutung geschichtlicher Vorgänge hängt auch von den Fragen ab, die wir an die Geschichte stellen; es sind heute andere als etwa noch vor einem halben Jahrhundert. Jetzt stehen Strukturen an Stelle der handelnden Personen („Männer machen Geschichte“ – Heinrich von Treitschke) im Vordergrund, obwohl das Pendel auch bereits wieder umzuschlagen scheint

entschuldigung, ich habe mir erlaubt manches hervorzuheben, denn diese Aussage fand ich sehr wichtig

Vielleicht bieten Strukturen eher eine objektive Wiedergabe, Personen tun sich wie wir sehn, sehr schwer damit.

Der Abschnitt über den Titel „Freie und Hansestadt“ - wird Wort-Schatz besonders freuen...
 
Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung

Miriam
zunächst Glückwunsch, dass der von Dir angestoßene Thread so schnell eine so gute Bewertung erfahren hat, unbeschadet wie man einzelne Aussagen schätzt.
Ich möchte nur noch kurz an Scillas Beitrag, den auch Du zustimmend zitiertst, anknüpfen, dass man zu unterscheiden hat zwischen der Geschichtserzählung und etwa einem Dokumentenband. Für das erste könnte stehen Felix Dahn "Ein Kampf um Rom", für Schüler wegen der phantsievollen Ausschmückung lesenswert; aber eine "Römische Geschichte" ist das natürlich nicht, da muss man schon auf Theodor Mommsen zurückgreifen. Immer aber bleibt Hauptaufgabe und größte Schwierigkeit die Interpretation der Quelle, d.h. ihre zeitliche, sachliche und thematische Einordnung. Zur Exegese kommt dann noch das sprachliche Verstehen (Hermeneutik), hat ein Wort oder ein Begriff heute noch denselben Bedeutungsgehalt, wie er vor etwa 300 Jahren unterlegt wurde. - Dazu könnte man viele Beispiele bringen, aber das würde hier vielleicht zu weit führen. - Nochmals: Dein Denkanstoß ist vortrefflich. Hoffentlich werden dazu noch mehr sachkundige und sachliche Beiträge geschrieben.
 


Das Werk - es ist unerträglich fade - ich habe es gelesen - , das Du zitierst, gehört der fiktionalen Literatur an und zwar zu der im 19. Jahrhundert beliebten Gattung der Professorenromane. Es erhebt also per se keinen Anspruch auf Geschichtsschreibung trotz ( zu) genauen Quellenstudiums des Autors.


Als praktizierende / praktiziert habende Geschichtslehrerin - zu Deiner Beruhigung, an Gymnasien - kann ich es Dir eidesstattlich versichern, dass kein normaler Schüler es heute noch lesen dürfte. Und ich bin fast sicher, auch im 19. Jh taten es diese nur auf Zwang.
Such life, mein Herr. Und das ist gut so!
 
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Was gehört alles, aus der Sicht der Historiker, zu den Dokumenten die der Geschichtsschreibung sachlich dienen sollten? Mit Historiker meine ich natürlich diejenigen, die als Forscher sich mit Geschichte befassen.

Für mich als absoluten Laien, sind die Zeitzeugen die über einen gewissen Zeitabschnitt berichten, wichtige Stimmen die gehört werden sollten. In diesem Sinne hatte ich auch Primo Levi genannt.
Eine andere Stimme die mir wichtig erscheint, ist die von Sebastian Haffner, mit seiner Geschichte eines Deutschen. Natürlich kann man die Liste fortsetzen, es haben so viele Zeugnis abgelegt. Aber ich wollte ja zu meiner ursprünglichen Frage zurückfinden: wird deren subjektive Sicht (denn eine jede persönliche Sicht ist subjektiv) zur Objektivierung der Geschichtsschreibung dienen? Ist also derjenige, der solche Quellen in einen Werk einfliessen lässt zu ihrer objektiven Auswertung fähig?

Für mich bleibt die Objektivbierung in Hinblick auf Zeitgeschehen ein wichtiges Thema, damit meine ich nicht als Beitrag hier, sondern als prinztipielle Frage.
 
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