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Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

...die ihrer Doktrin auf Grund ihres Leidens nicht folgen können, wenn selbst die Würdenträger das nicht schaffen.

Wirklich, ich hätte das gern genau gewusst.

Sagt die Doktrin der Kirche, dass jeder Arzt einen Patienten zwangsernähren muss, auch, wenn der Patient sich ausdrücklich dagegen weigert?

Oder sagt die Doktrin, dass jeder Katholik sich selbst künstlich ernähren lassen muss, auch, wenn er als Patient das gar nicht will und diesen Willen selbst glaubwürdig äußern kann?

Das habe ich wirklich noch nicht verstanden. Kann mir das wer erläutern?

lg Frankie
 
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AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Eine spannende Diskussion nach meinem Verständnis, denn sie zwinkt auch zum Nachlesen.

Ich bleibe nun hauptsächlich bei zwei ziemlich gleich gelagerten Aussagen.

Marianne schrieb:
Der Papst hat sich als katholischer Mensch seines Rechtes der Gewissensfreiheit besonnen : das spricht ihm keine Institution ab.Das Gewissen ist auch im kathlischen Dogma oberste Instanz - so weit ich noch aus dem Religionsunterricht weiß.

Und auch noch Frankie:

frankie schrieb:
Sagt die Doktrin der Kirche, dass jeder Arzt einen Patienten zwangsernähren muss, auch, wenn der Patient sich ausdrücklich dagegen weigert?

Oder sagt die Doktrin, dass jeder Katholik sich selbst künstlich ernähren lassen muss, auch, wenn er als Patient das gar nicht will und diesen Willen selbst glaubwürdig äußern kann?

Das habe ich wirklich noch nicht verstanden. Kann mir das wer erläutern?

Na, erläutern ist hier nicht der richtige Ausdruck. Aber ich habe (als sonntägiges Nachmittagsprogramm!) mir mal das Evangelium vitae
von Ioannes Paulus PP. II (März 1996), einigermassen durchgelesen. Dabei finde ich folgenden Abschnitt:

Zitat aus Evangelium Vitae:


4. Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.

Die Hervorhebung in Fettdruck stammt von mir.

Das ganze Evangelium Vitae findet Ihr unter:

http://www.vatican.va/holy_father/j...f_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae_ge.html

So wie ich diesen Abschnitt verstehe, betrachtet die Kirche, hier vertreten durch den Papst, die Tatsache, dass man sich auf die individuelle Freiheitsentscheidung beruft, als einen nicht akzeptablen Vorwand.

Mein Verständnis in dieser ganzen konfliktgeladenen Diskussion in Italien: Dogmen sind à priori unmenschlich. Dass heute von irgendeiner Kirche immer noch welche verkündet werden, versetzt die Menschen in Angst – sie beugen sich denen, auch wenn sie dadurch ein großes Leid erdulden müssen. Angst ist eine unheimliche Macht – und es wird damit heute noch Gehorsam erzwungen.

Vielleicht könnte diese große Diskussion in Italien etwas Positives bewirken: die Relativierung dessen was solche Dogmen verkünden.
Was mich überhaupt stört: alles was Bezug zur Sterbehilfe hat, auch wenn es eine ihrer rein passiven Formen ist, wird unter dem Sammelbegriff Euthanasie gehandelt.
Dabei ist manchmal sogar die aktive Sterbehilfe ein Akt purer Nächstenliebe – ich kenne solche Fälle, die auch einen großen Mut der Angehörigen erfordern.

Liebe Grüße

Miriam

 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Danke für den Link! Also da habe ich diese relevanten Stellen gefunden:

"Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben."

und

"Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen Übereifer« zu verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen »auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne daß man jedoch die normalen Bemühungen unterläßt, die in ähnlichen Fällen dem Kranken geschuldet werden«. Sicherlich besteht die moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu lassen, aber diese Verpflichtung muß an den konkreten Situationen gemessen werden; das heißt, es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder Euthanasie; er ist vielmehr Ausdruck dafür, daß die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird."

Also ich kann da eigentlich nichts herauslesen, was irgendwen zu einer Zwangsernährung zwingt. Bin ich grad sehr unfähig, die richtigen Stellen zu finden, oder kann ich diese 2 Stellen nicht richtig verstehen? :)

lg Frankie
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Mein Verständnis in dieser ganzen konfliktgeladenen Diskussion in Italien: Dogmen sind à priori unmenschlich. [...] Vielleicht könnte diese große Diskussion in Italien etwas Positives bewirken: die Relativierung dessen was solche Dogmen verkünden.

Dogmen sind relativ: sie gelten nur für Katholiken. Aber innerhalb der röm.-kath. Kirche ist kein Ablauf vorgesehen, wie man etwas am hierarchischen System der Kirche ändern kann. Oder wie eine Mitsprache der Basis bei den Glaubensinhalten funktionieren könnte.

Solche Mechanismen habe nur Demokratien. Da kann ganz Italien diskutieren, die ganze Welt kann diskutieren. Aber die röm.-kath. Kirche wird ihre Statuten nicht auf Drängen der Basis hin ändern. Das ist in ihr nicht vorgesehen, und das lässt sich auch nicht einbauen.

Das ist eine komplett unrealistische Erwartung. Dieses System ist absichtlich so gebaut. Egal, wie sehr das unserem heutigen Verständnis von lernenden Systemen widerspricht. Dieses System ist mit voller Absicht gegen jedes von der Basis betriebene Lernen resistent konzipiert und umgesetzt.

lg Frankie
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Aber darf ich dich fragen, wieso du diesen Verein so vehement ändern willst? Bist du dabei?

Ich bin nicht dabei, frankie, bin Atheist.
Der Wunsch, diesen "Verein" zu ändern, kam in diesem Thread von Sunnyboy.
Ich erlaube mir nur, diesen Verein gelegentlich zu kritisieren.:)

Gruss
Hartmut

P.S.:
Noch etwas zu dem von dir erwähnten Erfolgsrezept der römisch-katholischen Kirche. Ich glaube, das Erfolgsrezept basierte darauf, dass der römische Kaiser Konstantin das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion machte und damit an die weltliche Macht band. Sonst wären die Christen wohl nur eine von etlichen Sekten geblieben.
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Noch etwas zu dem von dir erwähnten Erfolgsrezept der römisch-katholischen Kirche. Ich glaube, das Erfolgsrezept basierte darauf, dass der römische Kaiser Konstantin das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion machte und damit an die weltliche Macht band.

Ja, das glaube ich auch. Aber die Trennung von Kirche und Staat und die Einführung der Religionsfreiheit müsste ja heute dazu führen, dass die Christen eine unbedeutende Sekte sind. Wenn nicht ihr von oben verabreichter Glaube trotzdem für viele attraktiv wäre. Das meinte ich.

Aber vielleicht ist das ja eh nur eine Frage der Zeit... :)

Doch hier im Thread geht es ja um konkrete "Heuchelei". Das ist eine schwere Anschuldigung. Bloß habe ich bis jetzt die von der Kirche angeblich verordnete "Zwangsernährung" noch nicht gefunden. Da hätte ich wirklich gern Fundiertes, das ich selbst offenbar nicht sehe.

Denn, wenn da nichts zu finden ist, dann ist ja die Anschuldigung selbst eine ganz widerwärtige, bösartige Respektlosigkeit. Zumindest in diesem konkreten Fall. :)

Kann mir da wer helfen?

lg Frankie
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Frankie, ich wollte schon gestern auf das Thema "Zwangsernährung" eingehen - habe es dann vergessen.

Es geht überhaupt nicht um Zwangsernährung in dem was die offizielle katholische Kirche in Bezug auf (passive) Sterbehilfe sagt. Deswegen habe ich gestern auf den Faktor Angst hingewiesen, der Sterbende sollte einer künstlichen Ernährung zustimmen, denn sich dieser zu widersetzen indem er sich auf sein Recht sich frei zu entscheiden beruft, bedeutet ein "Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit" (Originaltext des Evangelium vitae).

Doch es gibt inzwischen dieser m.E. interessante Verein, eher ein Netzwerk, welches uns als "Initiative Kirche von unten (IKvu)" bekannt ist, der übrigens die von der katholischen Kirche so unerwünschte ökumene praktiziert.

Bis später, ich denke ich soll doch noch ein anderes Kapitel ansprechen in Zusammenhang mit der autoritären Haltung des Vatikans: den Verbot Kondome zu benutzen. Für Afrika bedeutet dies ein mehrfaches Todesurteil - denn da nimmt man diese Verbote ernst. Aber ich denke, dass dafür ein separater Thread angebracht wäre.

lG

Miriam
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

...der Sterbende sollte einer künstlichen Ernährung zustimmen, denn sich dieser zu widersetzen indem er sich auf sein Recht sich frei zu entscheiden beruft, bedeutet ein "Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit" (Originaltext des Evangelium vitae).

Ja, liebe Miriam. Der von dir zitierte Originaltext lautet im Zusammenhang:

"...breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates..."

Das steht im Evangelium vitae.

Aber die Situation von Papst Johannes Paul II wird ja an anderer Stelle des Evangelium vitae ganz klar behandelt, nämlich hier (wie schon von mir zitiert):

"Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen Übereifer« zu verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen »auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten..."

Ich kann nirgendwo erkennen, dass sich dieser Papst auf seine "Rechte der individuellen Freiheit" berufen hätte, als er eine Zwangsernährung abgelehnt hat. Wozu hätte er das tun sollen?

Er konnte sich ja ohnehin auf den jenen Teil des Evangelium vitae berufen, der ja ganz genau für solche Fälle drinsteht und das eindeutig so regelt, wie der Papst das entschieden hat.

Bitte helft mir. Wo irre ich da?

Das war nicht geheuchelt. Es mag alles in der röm.-kath. Kirche geheuchelt sein. Aber das war nicht geheuchelt. Ich sehe es nicht. Bitte zeigt es mir. :)

lg Frankie
 
AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Also, ich wollte dieses Thema wirklich nicht abwürgen. Das interessiert mich außerordentlich!

Hat sich da etwas Neues ergeben?

lg Frankie
 
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AW: Wenn die Ethik der Doktrin nicht mit dem Gelebten übereinstimmt

Und heute stand im "Standard":

"Papst Johannes Paul II "zu spät behandelt"
Vatikan dementiert Behauptungen einer italienischen Ärztin
Rom – Ausgerechnet bei einem Papst könnte der Vatikan gegen sein eigenes Sterbehilfeverbot verstoßen haben. Mit dieser Ansicht schockiert die italienische Ärztin Lina Pavanelli die Katholiken. Es geht um die letzten Tage von Papst Johannes Paul II. Erst drei Tage vor seinem Tod sei er mit einer Sonde zur künstlichen Ernährung ausgestattet worden, sagt die Spezialistin für Reanimation und Anästhesie. "Das war viel zu spät."

Johannes Paul II. sei damit medizinische Hilfe verweigert worden, die ihn länger am Leben hätte halten können, meint Pavanelli und sagte in einem Interview mit CBS News: "Entweder seine Ärzte haben es bewusst getan oder sie haben den Papst nicht umfassend informiert oder er hat es selbst so entschieden." Damit hätte die katholische Kirche gegen einen ihren festen Grundsätze verstoßen. Medizinische Hilfe zu verweigern ist in den Augen des Vatikans ein Akt der Euthanasie.

Vatikan dementiert

Der Vatikan wies die Behauptungen der Ärztin sofort zurück. Johannes Paul II. habe am Ende seines Lebens weitere Behandlungen, die keine Aussichten mehr hatten, abgelehnt, berichtete der Präsident des Päpstlichen Rates für die Krankenseelsorge, Kardinal Javier Lozano Barragan, bei einem Ärzteseminar in Mailand. Dies sei erlaubt. Barragan sprach sich gegen "unmenschliche Behandlungen" für Sterbende aus, die keine Rettungsaussichten haben. "Konkret muss man jedoch viele Bedingungen berücksichtigen. Die Ablehnung der Behandlungen darf keine Ausrede zur Legalisierung der Euthanasie werden", sagte Barragan. (red, DER STANDARD - Printausgabe, 5. Oktober 2007)"


Na also. Meine Rede. :)

lg Frankie
 
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