AW: Was macht dich interessant?!
Vor vielen, vielen Jahren, Mitte der 70er, lustwandelte ich mit einer Freundin auf dem Gelände eines Musikfestivals und weil wir beide beschwingt waren, fragten wir spontan uns entgegenkommende Menschen, ob sie sich interessant fänden.
Hallo Raphael!
Merkwürdig: Ich habe darüber kurz nachgedacht, aber diese Frage stelle ich mir nicht wirklich, nicht direkt. Obwohl mich hin und wieder durchaus das Sinnieren und Reflektieren überfällt. Vielleicht war das auch bei mir eher noch in den 70ern der Fall, als ich in jungen Jahren unterwegs war, nach interessanten Mädchen Ausschau hielt und mich auch für sie interessant machen wollte?
Beschäftigt man sich sonst nicht eher mit der Frage, was für sich selber interessant sein könnte? Wo und wie man sich einordnen kann und ob man das überhaupt soll und will und Ähnliches mehr?
Na ja, egal, hier wird ja nicht gerade philosophiert. Aber ich möchte dennoch über eine andere Person schreiben, die ich äußerst interessant finde (aus aktuellem Anlass).
Maria ist schon weit über 50 und ich kenne sie sehr gut, bin sogar mit ihr seit unserer Kindheit ein bisschen befreundet. Vor kurzem musste sie erfahren, dass sie Brustkrebs hat.
Sie hat jung geheiratet, bald bekamen sie einen Sohn und das eigene Haus wurde auch nach und nach fertig gestellt. Beide bekamen vom Elternhaus nur wenig bis gar nichts mit, weil diese selber nicht viel hatten (zwei Großfamilien).
Der Gatte verunglückte nach ein paar Jahren mit dem Auto als Beifahrer (beide Insassen tot).
Der Sohn wuchs heran und kaufte sich mit 18 oder 19 auch ein Auto, natürlich einen Gebrauchtwagen.
Mit 20 verunglückte er ebenfalls tödlich.
Die Frau hatte inzwischen nochmals geheiratet und bekam noch einen Sohn und eine Tochter.
Als sie noch keine 40 war, erlitt ihr 2. Gatte einen Gehirnschlag. Seither war er nicht nur an den Rollstuhl gefesselt, sondern er konnte nicht reden, nur gestikulieren und war teilweise gelähmt. Jahrelang musste sie ihn pflegen, ins Bett und aus dem Bett heben, aufs Klo führen, füttern und mit ihm reden. Er bekam alles mit.
Gott sei Dank oder leider?
Nach 13 Jahren starb er.
Die Kinder sind ebenfalls schon lange aus dem Haus, beide verheiratet. Die Tochter hat Angina pectoris, aber offenbar nur in leichter Form, weil die Beschwerden nicht so sehr die Lebensqualität beeinträchtigen, so viel ich gehört habe.
Maria ist allein im Haus. Sie hat sich den Keller gemütlich eingerichtet und wohnt dort, weil sie oben in der Wohnung, wo früher so ein reges Leben herrschte, nun nicht mehr sein kann.
Sie kocht für ihre kranke Mutter, die bei ihrem Sohn lebt, aber mit der Schwiegertochter zerstritten ist.
Sie kocht auch für ihre zwei Brüder, der älteste geschieden und bereits in Pension, der andere noch immer ledig.
Ein Bruder ist ein spät berufener Pfarrer, für den wäscht sie die Wäsche.
Der 4. Bruder musste krankheitshalber in Frühpension, er muss auch immer wieder ins Spital, manchmal wochenlang. Für ihn braucht sie allerdings nicht zu sorgen, er ist verheiratet.
Ihr Sohn wohnt nicht weit von ihr, und sie darf, soll öfters auf die beiden Enkerl aufpassen.
Sie bekommt wenig Pension und verdient sich ein Zubrot in einem Gasthaus in der Küche.
Wie macht das diese Frau?
Und wie geht es nun weiter, vielleicht beginnt sie bald mit einer Chemo (ich weiß es noch nicht so genau, ob sie eine braucht)? Als ich mit ihr vor kurzem redete, wirkte sie ruhig, oder eigentlich besser "gschnattrig" wie immer.
Ich weiß nicht, ob diese Frau interessant ist, aber auf jeden Fall ungewöhnlich und äußerst bewundernswert.
Wenn ich unzufrieden bin mit mir oder mit anderen Dingen, und wenn ich mehr haben möchte,
dann denke ich oft über solche Alltags-Schicksale nach,
damit ich kleiner und bescheidener und zufriedener sein kann.
Dann falle ich auch nicht so schnell in die Versuchung, mich zu fragen:
Warum muss gerade mir das passieren?
Das ist vielleicht ein wenig OT, lieber Raphael, aber dir geht es gerade auch nicht so besonders, habe ich gerade gelesen. Ob eine solche Geschichte über dir unbekannten Personen für dich ein kleiner Trost sein kann, weiß ich nicht.
Aber vielleicht doch ein wenig so was wie eine kleine Ablenkung?
lg
Andreas