Marianne schrieb:
Glaubst Du, dass ich z:B. als überzeugte Sozialistin von morgens früh an die Internationale singe
Ja. Das glaube ich. Unbesehen. Ich singe sogar mit, wenn ich frühmorgens an Deinem Fenster vorbeikomme. Und ich bring auch frische Brötchen und Milch mit, den Kaffee kochst Du
!
Die Diskussion wurde eröffnet mit den Stichworten
Sozialismus und Individualismus, sogleich wird jedoch nach dem Verhältnis von Individualismus und Sozialdemokratie gefragt, als wenn sozialistisches und sozialdemokratisches Denken dasselbe wären.
Sozialismus: Alle sind gleich oder werden, weil sie eben nicht gleich sind, gleich gemacht, aber: es gibt eine vorgeordnete oligarchische Herrschaftsinstanz, die dich nach Können und Leistung (in der faschistischen Variante auch nach sozialer und ethnischer Herkunft) einordnet - der Staat leistet nach Zerstörung herkömmlicher Strukturen eine Minimalversorgung = revolutionärer Ansatz, eine Herrschaft wird durch eine andere ersetzt;
Sozialdemokratie: Alle sollen gleiche Möglichkeiten der Entfaltung und Mitbestimmung haben, der Staat zerstört die herkömmlichen Strukturen nicht, sondern versucht, das Bildungsniveau Schwächerer zu heben (sehr erfolgreich hierin: die sozialdemokratischen Arbeitervereine der 1860 / 70er Jahre), um sie besser als Funktionsträger in den Staat integrieren zu können = reformistischer Ansatz, formale Gleichheit aller als Ziel. Was im GG ja auch vorbildlich verwirklicht wurde, und was sich die BRD zum Prinzip machte, lange bevor Deutschland zur treibenden Kraft der Europäischen Union ward.
Ziesemann schrieb:
Was aber in Europa, vor allem in Deutschland zu beobachten ist, das fasst man unter "Sozialdemokratisierung" zusammen, und davon ist in D auch die CDU längst ergriffen - ich sage das hier weder bedauernd noch begrüßend.
Die von vornherein "sozialdemokratische" CDU hat 1949 als reformistische Partei Westdeutschland auf den Weg gebracht - es gab keine Alternative zur staatlich kontrollierten Wirtschaft, die allmählich in halb freie Märkte geführt wurde; die SPD unter Schumacher oder Ollenhauer hätte es anders, langsamer, aber nicht besser gekonnt. (Zur Kritik im einzelnen, z.B. an Adenauers Rentenpolitik bitte ich (Jahrgang 67) jedoch Ältere zu Wort - vielleicht könnt ihr Älteren besser erklären, warum das heutige Desaster des Sozialstaats weniger im System liegt, sondern auf einzelnen frühen Fehlentscheidungen beruht.)
Das
"Individuum" als politische Kategorie verschwindet dabei natürlich, es bleibt aber der Vorzug der Sozialdemokratie, daß sie ihm alle Rechte einräumt und es nicht im abstrakten Nirwana des Kollektivs verschwinden läßt!
Die möglichen politischen Gegenkräfte sind bis heute die echten Konservativen, die als wohlhabende Minderheit jedoch keine Schwierigkeiten haben, sowohl sich selbst zu erhalten als auch politisch Einfluß zu nehmen; und - kaum nennenswert - die Handvoll Menschen, die individuelle Freiheit nicht mit dem Gedanken an "Staat" verbinden wollen. Aber: beide haben sich bestens mit der waltenden Sozialdemokratie arrangiert und sind weit entfernt, am bestehenden Zustand etwas ändern zu wollen.
Gaius