AW: Persönliche Gedanken zu den Tageslosungen
Teil2:
1. Die Erbsünde
Von Herbert Schnädelbach
Wie das Christentum als Theologie ist auch die Erbsünde eine Erfindung von Paulus: "Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben" (Röm. 5, 12). In der Tat ist auch Genesis 2, 17 zufolge der Tod "der Sünde Sold" (Römer 6, 23), denn Gott sprach: "... aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben." Das Alte Testament kennt somit den Tod aller Menschen nur als Erbschaft der Sünde Adams. Aus diesem "Erbtod" macht Paulus im kühnen Umkehrschluss die Erbsünde: Wenn die Sünde den Tod zur Folge hat, muss dort, wo gestorben wird, auch Sünde gewesen sein, für den der Tod die Strafe ist; also sind alle Nachkommen Adams allein deswegen, weil sie als Sterbliche geboren worden sind, geborene Sünder - unabhängig von ihren Taten. Daraus ergibt sich die paulinische Botschaft der Rechtfertigung durch den Glauben, auf die sich in unseren Tagen Katholiken und Protestanten in einem gigantischen Formelkompromiss erneut geeinigt haben. Eine solche Nachricht ist aber kein Trost, sondern eine Provokation für alle, die sich weigern, den paulinischen Zusammenhang zwischen Tod und Sünde anzuerkennen: Warum sollte ich mich bloß deswegen, weil ich sterblich bin, für schuldig halten? Wer sich nur durch den Glauben für gerechtfertigt hält, ist bereit, sich um Adams willen oder besser grundlos beschuldigen zu lassen und dann als bloß Begnadigter weiterzuleben. Überdies kann der Begnadigte seiner Gnade niemals sicher sein, wie uns die Lehre von der Prädestination versichert. Deren Funktion ist es freilich, die Rechtfertigung durch den Glauben nicht selbst als einen Rechtsanspruch darzustellen, aber was ist das für eine Gerechtigkeit, die die einen Erbsünder zum Heil und die anderen zur Verdammnis vorherbestimmt? An dieser Stelle verbietet uns das Christentum den Mund: "Ja, lieber Mensch, wer bis du denn, daß du mit Gott rechten willst?" (Röm., 9, 20)
Was die Lehre von der Erbsünde anthropologisch bedeutet, liegt auf der Hand:
Sie ist menschenverachtend. Der Mensch, wie er geht und steht, ist verblendet, wenn er sich nicht für "verderbt" und für unfähig zum Guten hält. Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten,
ist ein gern geglaubtes Märchen. Die Idee der Humanitas stammt aus der Stoa,
und die Figur des aufrechten Ganges des Menschen vor Gott ist ein jüdisches Erbe, das das paulinische Christentum korrumpiert und verschleudert hat. Der fromme Jude spricht sich selbstverständlich die prinzipielle Fähigkeit zu, "gerecht", das heißt dem göttlichen Gesetz gemäß zu leben; er kennt keine Erbsünde, sondern nur die Sünden, die er selbst begangen hat, und für die existiert auch Vergebung. Diese jüdische Überzeugung trifft der ganze Hass und die ganze Verachtung des Neuen Testaments; Paulus zufolge gibt es vor Gott keine Gerechten, und die, die sich dafür halten, sind Pharisäer - ein Schimpfwort bis heute. Dem fügt er noch die Propagandaphrase vom Leiden der Juden unter dem Gesetz hinzu, die bis heute die Judenmission rechtfertigen soll; es gilt ihm als "Fluch" und als "Zuchtmeister ... auf Christum" (Galater 3, 13 und 24). In Wahrheit ist für die frommen Juden das Gesetz selbst göttliche Gnade; wie könnten sie sonst das Fest der Gesetzesfreude feiern?
Die Lehre von der Erbsünde und ihr Gegenstück, die These von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben, haben dazu geführt, dass das jüdische Motiv der Würde eines jeden Menschen als Gottes Ebenbild und die stoische Idee der Menschenrechte im Christentum nur in verstümmelter und dadurch pervertierter Gestalt festgehalten wurden. Das Resultat ist die christliche Lehre vom relativen Naturrecht: Menschenwürde und Menschenrechte existieren im Christentum nur für Glaubende als von Gott Begnadigte. Wer dazugehört, darüber entscheidet die Kirche: "Extra ecclesiam nulla salus." So ist es kein Zufall und erst recht kein historischer Unfall, wie der Papst glauben machen möchte,
dass seit je für die Christen die Heiden bis zu ihrer Taufe keine Menschen waren und auch nicht so behandelt werden mussten.
In den christlichen Staaten konnten naturrechtliche Ansprüche stets mit dem Hinweis auf den "Sündenstand" der Betroffenen abgewiesen werden. So musste die Aufklärung die Idee des nichtrelativen Naturrechts gegen den erbitterten Widerstand der Amtskirche beider Konfessionen durchsetzen, denn es ließ sich nur als säkulares durchsetzen. Dabei galt es, die Erbsündenlehre samt ihren fatalen Implikationen zu neutralisieren. Dass auch heute ständig auf die Verdienste des Christentums für die Ideen der Menschenwürde und Menschenrechte verwiesen wird, so als hätte hier etwas vorgelegen, was nur zu säkularisieren gewesen wäre, ist in Wahrheit bittere Ironie: Das jüdische und stoische Erbe musste der christlichen Tradition erneut abgetrotzt werden. Es gibt keinen Grund für Christen, darauf auch noch stolz zu sein.