Wir hatten mal, vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, eine soziale Marktwirtschaft, die es zu pflegen und weiterzuentwickeln galt. Die vermisse ich.
Ja, und die haben wir immer noch. Was passiert, wenn das "sozial" großteils wegfällt so wie du es unterstellst, konnte man in Russland nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sehen. Flugs bilden sich Oligarchien. Zwar wird hier (besonders auch hier im Forum) gerne skandalisiert, aber wir sind glücklicher Weise doch sehr weit von so einem wirklichen Oligarchensystem entfernt.
Natürlich ist auch bei uns nicht alles rosa, aber die nostalgische Schwärmerei "früher war alles besser" halte ich für verfehlt.
Was sich im Gegensatz zu früher verändert haben mag ist, dass einzelne viel reicher sind als früher. So mag sich der "kleine Mann" benachteiligt fühlen, wenn er auf "die Reichen" blickt und feststellt, dass er im Vergleich zu jenen nun ärmer sei als früher. Ein besserer und sachlicherer Vergleich wäre aber der des heutigen "kleinen Mannes" mit jenem von früher. Und da muss man schon so ehrlich sein und zugeben, dass es dem "kleinen Mann" früher weniger gut ging als heute.
Auch wenn manche mit scheinbaren Argumenten wie "die Mieten sind ja so viel unleistbarer geworden" kommen mögen: Begnügt man sich mit dem Wohnstandard der 1970er Jahre, tut man sich in der Regel auch heute leichter als damals.
Wenn man den zwischenmenschlichen Aspekt meint, dass früher der zwischenmenschliche Zusammenhalt "besser" gewesen sei, dann kann ich dir schon zustimmen. Der Punkt ist nämlich, je besser es einer Gesellschaft insgesamt geht, desto egoistischer werden die Individuen. Der Hintergrund ist der, dass je schlechter es der Mehrheit geht, desto mehr sind die Individuen aufeinander angewiesen und desto mehr nehmen sie aufeinander Rücksicht.
Dass es die Menschen auch hier nicht prinzipiell verlernt haben zeigt sich immer wieder in Katastrophenfällen, wenn sich zahlreiche Freiwillige finden, die ohne Entgelt oder sonstige Gegenleistungen Hilfsdienst leisten. Ist die Ausnahmesituation vorbei, geht es zurück in den egoistischen Alltag.
Das heißt, das rauhe zwischenmenschliche Klima, in dem jeder nur auf seinen Vorteil bedacht zu sein scheint (gilt auch und besonders für den "kleinen Mann"!) ist eine Folge des Wohlstandes. Somit landet man bei der dilemmösen Frage ob man den Wohlstand beseitigen solle, um den Zusammenhalt zu stärken.