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Lieblingsgedichtssammlung

AW: Lieblingsgedichtssammlung

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke
 
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AW: Lieblingsgedichtssammlung

Regen im Herbst

O Regen, Regen im Herbst,
Grau verschleierte Berge,
Bäume mit müde sinkendem Spätlaub!
Durch beschlagne Fenster blickt
Abschiedsschwer das krankende Jahr.
Fröstelnd im triefenden Mantel
Gehst du hinaus. Am Waldrand
Tappt aus entfärbtem Laub
Kröte und trunkner Salamander.
Alle Wege hinab
Rinnt und gurgelt unendlich Gewässer,
Bleibt im Grase beim Feigenbau
In geduldigen Teichen stehn.

Und vom Kirchturm im Tale
Tropfen zögernde müde
Glockentöne für Einen vom Dorf,
Den sie begraben.

Du aber traure, Lieber,
Nicht dem begrabenen ALten,
Nicht dem Sommerglück länger nach
Noch den Festen der Jugend!
Alles hat Dauer in frommer Erinnerung,
Bleibt in Wort, im Bild, im Liede bewahrt,
Ewig bereit zur Feier der Rückkehr
Im erneuten, erhöhten Gewand.
Hilf bewahren du, hilf verwandeln,
Und es geht dir die Blume
Gläubiger Freude im Herzen auf.

Hermann Hesse
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Beruhigung

Auf alle Höhen
Da wollt ich steigen,
Zu allen Tiefen
Mich niederneigen.
Das Nah und Ferne
Wollt ich erkünden,
Geheimste Wunder
Wollt ich ergründen.
Gewaltig Sehnen,
Unendlich Schweifen,
Im ewgen Streben
Ein Niedergreifen -
Das war mein Leben.

Nun ist's geschehen; -
Aus allen Räumen
Hab ich gewonnen
Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen
Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen
Weltweite Dinge.
Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben,
Goldzauberkreise -
Ist nun mein Leben.

Wilhelm Raabe
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Kirmes

Wer kennt nicht die alte Regel,
Daß man nach dem ersten Schnee,
Feiertags mit Kind und Kegel
Auf das Land zu Freunden geh'?

Dort geschehen große Dinge,
Und es weht ein leckrer Duft,
Selig heben Fritz und Inge
Ihre Nasen in die Luft.

Karpfen plätschern in der Wanne,
Gänse tun den letzten Schrei,
Schmoren lustig in der Pfanne,
Knusprig bringt man sie herbei.

Klöße runden sich zum Hügel,
Kuchen laden ein zum Mahl,
Fische, Backwerk, Wurst , Geflügel,
Wer die Wahl hat, hat die Qual.

Eifrig geht es ans Geschmause,
Kirmse heißt das Zauberwort.
Nüchtern kommt man von zu Hause,
Vollgegessen geht man fort.


Peter Boll
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

AUF DEN TOD EINES KLEINEN KINDES

Jetzt bist du schon gegangen, Kind,
Und hast vom Leben nichts erfahren,
Indes in unsern welken Jahren
Wir Alten noch gefangen sind.

Ein Atemzug, ein Augenspiel,
Der Erde Luft und Licht zu schmecken,
War dir genug und schon zu viel;
Du schliefest ein, nicht mehr zu wecken.

Vielleicht in diesem Hauch und Blick
Sind alle Spiele, alle Mienen
Des ganzen Lebens dir erschienen,
Erschrocken zogst du dich zurück.

Vielleicht wenn unsre Augen, Kind,
Einmal erlöschen, wird uns scheinen,
Sie hätten von der Erde, Kind,
Nicht mehr gesehen als die deinen.

Aus: Hermann Hesse - Die Gedichte
Zweiter Band - Suhrkamp Taschenbuch 381​
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Der Tod der Armen

Du bist der Tod, der tröstet und belebt,
Du bist das Ende und der Hoffnungsstrahl,
Der Zaubertrank, der uns berauscht und hebt
Bei unsrem nächtigen Gang durchs dunkle Tal.

Du bist der Glanz, der schimmernd vor uns schwebt,
Durch Sturm und Wetterwolken dumpf und fahl,
Du bist das Obdach, ach so heiß erstrebt,
Du bist uns Schlaf und Ruh und stärkend Mahl.

Du kommst, ein Engel aus geweihten Stätten,
Uns Nackte und Verstoßne weich zu betten,
Traum und Entzückung strömt aus deiner Hand.

Des Armen Gut, sein seliges Erretten,
Uralte Heimat du, Erlösung aus den Ketten,
Die offne Tür zum unbekannten Land.

Charles Baudelaire
Aus der Sammlung "Die Blumen des Bösen"​
 
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Menschen bei Nacht

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so musst du bedenken: wem.​

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,
das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt,
so schaust du eine wankende Welt
durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein
alle Gedanken verdrängt,
in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt
die schwere Gebärde, mit der sie sich
bei ihren Gesprächen verstehn;
und dabei sagen sie: Ich und Ich
und meinen: Irgendwen.

Rilke​
 
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Eugen Roth
Für Moralisten

Ein Mensch hat eines Tags bedacht,
was er im Leben falsch gemacht,
und fleht, genarrt von Selbstvorwürfen,
gutmachen wieder es zu dürfen.
Die Fee, die zur Verfügung steht,
wenn sich's wie hier, um Märchen dreht,
erlaubt ihm denn auch augenblicks
die Richtigstellung des Geschicks.
Der Mensch besorgt dies äußerst gründlich,
merzt alles aus, was dumm und sündlich.
Doch spürt er, daß der saubern Seele
ihr innerlichstes Wesen fehle,
und scheußlich geht's ihm auf die Nerven:
Er hat sich nichts mehr vorzuwerfen,
und niemals wird er wieder jung
im Schatten der Erinnerung.
Dummheiten, fühlt er, gibt's auf Erden
nur zu dem Zweck, gemacht zu werden.​

:schnl:.:katze:
 
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