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Lieblingsgedichtssammlung

AW: Lieblingsgedichtssammlung

Wintermorgen

Reiffrost und Sonne; Tag der Wunder!
Du schläfst zwar, Reizende, jetzunder -
Doch, Freundin, es wird Zeit, steh' auf;
Schlag auf die Augen, traumgebunden,
Der nordischen Aurora Stunden
Geh du als Stern des Nordens auf!

Noch gestern pfiff des Sturmes Toben,
trüb war's am trüben Himmel droben;
Nur schwach drang Mondes blasse Spur
Durch finstre Wolken fahl und schaurig,
Und du, du saßest still und traurig -
Doch jetzt ... schau durch das Fenster nur:

Sieh unter blauen Himmelsweiten
Den Teppich wunderbar sich breiten,
Wie glänzt im Licht der Schnee so weiß;
Der schüttre Wald zieht schwarz von dannen,
Durch Rauhreif bricht das Grün der Tannen,
Das Flüßchen funkelt unterm Eis.

Ein Bernsteinlicht erfüllt das Zimmer
So warm. Im Ofen kracht wie immer
Das Holz, das angezündet ward.
Es lockt die Ruhstatt zwar, die gute.
Doch sollt man nicht die braune Stute
Anspannen? Eine Schlittenfahrt?

Auf morgendlicher Schneebahn fegend,
O Freundin, dring in uns erregend
Des Pferdchens ungeduld'ger Trab,
So kommen wir durch leere Felder,
Durch die noch unlängst dichten Wälder
Zum Ufer, das so lieb ich hab'.

Alexander Puschkin

:)
 
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AW: Lieblingsgedichtssammlung

Die verschneite Bank

Da steht die Bank, rings eingeschneit,
Auf der so oft wir saßen,
Wenn wir im Traum der Jugendzeit
Die Welt umher vergaßen.

Und doch, wie licht und lockig lag
Sie damals uns zu Füßen -
O könnt' ich sie nur einen Tag
So wiederum begrüßen!

Ja, als die Herzen uns geglüht,
Da war es schön und wonnig,
Und, wann der Frühling uns umblüht,
Da war es doppelt sonnig.

Doch heute kann ich nicht so sehr
Dem Winter es verargen,
Daß er mich will nicht dulden mehr,
Wo wir im Glück uns bargen.

Martin Greif
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Unverborgen

Im Schneekleid da kennt uns keiner,
wenn wir dem Schlitten folgen.
Das Weiße bindet uns ein.

Kleine Hasen des Winters,
Vogel im Schneegefieder,
nur mit kürzerem Fuß.

Müssen wir weit? Der Schlitten,
Pelz über schwingenden Kufen,
läutet am Horizont.

Weißes geliehen zur Täuschung.
Wir, Gejagte, die jagen,
sind wie Zeisige bunt.

So erkennt uns im Schlitten
der Pelzvermummte, der wartet,
so erspäht uns der Jäger:
Sommerhasen im Schnee.
:hase:

Margot Scharpenberg
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Im Nebel

Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.

Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den anderen,
Jeder ist allein.

Hermann Hesse
 
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Schnee

Da sind nur Winterschneisen und die Hieroglyphen
der schwarzen Äste vor der Wolkenwand des Himmels,
nackt wie dein Denken diesen Nachmittag,
die Schrift der Wildspur und der Vogelkrallen.

Du trittst in ihre ungelösten Rätsel ein,
duchkreuzt die Linien, störst die Kreise,
ziehst Tangenten, einen plumpen Strich
durch die Leere, die sich vor dir dehnt,
versuchst die Blätter zu addieren.

Doch sie verweigern dir die Summe,
bleiben isoliert wie du
in diesem weißen Raum.

Du spielst mit einem Zapfen
abgebrochenen Eises, mit dem Schorf
vernarbter Wunden, ballst den Schnee
ohnmächtig in der Faust zu harten Kugeln
und läßt ihn schmelzen, um dir zu beweisen,
daß du noch etwas Wärme in dir hast.

Wolfgang Bächler

:weihnacht
 
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Theodor Fontane (1819-1898)
Überlaß es der Zeit

Erscheint dir etwas unerhört,
bist du tiefsten Herzens empört,
bäume nicht auf, versuch's nicht mit Streit,
berühr es nicht, überlaß es der Zeit.
Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,
am zweiten läßt du dein Schweigen schon gelten,
am dritten hat du's überwunden;
alles ist wichtig nur auf Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.​

:).:katze3:
Die Zeit, wer was immer darunter vertstehen mag :dontknow:
- eilt, teilt, heilt...alle Wunden, auch bei den sog. "Gesunden" ...
"wetten...daß?" - auch ohne Bier-Faß!
:clown3:
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Japanisches Nachtlied

Stille ist im Pavillon aus Jade
Krähen fliegen stumm
Zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.
 
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Fallen

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rilke, Rainer Maria (1875-1926)
 
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VICE VERSA

Ein Hase sitzt auf einer Wiese,
des Glaubens, niemand sähe diese.
Doch, im Besitze eines Zeißes,
betrachtet voll gehaltnen Fleißes
vom vis-à-vis gelegnen Berg
ein Mensch den kleinen Löffelzwerg.
Ihn aber blickt hinwiederum
ein Gott von fern an, mild und stumm.

(Christian Morgenstern)
 
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Erklär mir, Liebe

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Enterich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldener Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an die Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
Sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermisst?

Du sagst, es zählt ein andrer Geist auf ihn ...
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

(Ingeborg Bachmann)
 
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