AW: Kultur des Verbots - Absage an die Vernunft?
Na ja, vielleicht liegt es auch an den sicherer gebauten Autos, der besseren und schnelleren medizinischen Versorgung der Opfer... es lässt sich wahrscheinlich nicht mit letzter Sicherheit sagen
Robin schrieb:
Früher gab es erheblich mehr Verkehrstote...Notwendiger Preis der "Freiheit"?
Aber das Wort "Freiheit" reizt mich unheimlich, Robin. Du erlaubst? Hi hi hi, schwierig, es mir zu verbieten, gell?
Vernunft ist sicher sehr individuell, eine Universalvernunft gibt es nicht, oder? Vielleicht gibt es die Vernunft ja auch gar nicht und es ist nur die persönliche Grenze der Angst, die wir so schön
Vernunft nennen. Hat aber natürlich sehr mit den Charaktereigenschaften, dem Temperament, der Mentalität des Einzelnen zu tun (ihr könnt euch aussuchen, welcher Begriff hier besser passt, ich weiss es nicht).
Was brach man früher als es noch nicht so viele Verbote gab? Doch Tabus, nicht? Oder noch besser: die Zehn Gebote. Nicht mal die heilige Kirche konnte erreichen, dass man (und frau *lol*) nicht die "Ehe brach". Ich bin nämlich der Meinung, dass es eben nicht nur mit dem "verfluchten" Trieb zu tun hat, das wäre doch zu einfach (und dieser ja gerade in der Ehe zu befriedigen!). Viel mehr hat es mit dem Reiz des Verbotenen zu tun, dem Gefühl, wieder ein bisschen Freiheit zu geniessen, das hier ohne Rücksicht auf die bevorstehende Beichte (in der Kirche oder zu Hause) ausgekostet wird. Ich bin zwar nicht verheiratet, aber das gilt natürlich gleichermassen auch für Partnerschaft. Je mehr einer der Partner auf Treue pocht (Eifersucht, ob krankhaft oder normal!) desto enger wird das Korsett geschnürt und die Sehnsucht nach ein wenig Freiheit (wenn auch nur scheinbarer) grösser. Kommt mir jetzt ja nicht mit "Liebe", denn die wird m.M.n. in den meisten solcher Ausbrüche überhaupt nicht tangiert. Wohl erst hinterher, meine ich jetzt theoretisch *loool*.
Aber ich kann noch simpler: Auf vielen Schulplätzen wurde den Schülern das Rauchen verboten. Fein. Und was erreichte man damit? Die Schüler reizt das Verbot. Das Tabu muss gebrochen werden, also rauchen sie auf der Strasse, gleich dem Schulhof angrenzend, wo das Verbot nicht (noch nicht) gilt. Viele Pädagogen sind sich einig, dass das Verbot eher die jüngeren Schüler reizt, mit Rauchen anzufangen (auch von ihnen muss ja noch das Tabu gebrochen werden), statt sie abzuschrecken, obwohl ja die meisten sonst als intelligent und "vernünftig" einzustufen sind. Es ist der Reiz des Verbotenen, der Kick, das Gefühl, für ein paar Minuten "frei" zu sein. Gab es früher genauso. Ich kann mich erinnern, dass an allen, ob öffentlichen oder privaten Schulen und Internaten, die ich je beglückte, das Rauchen streng verboten war. Die Toiletten waren in der Pausen so Rauch verpestet, dass frau diese eigentlich nur mit Gasmaske betreten dürfte. Ich war nie vernünftig, es reizte mich unheimlich, das Tabu auch mit zu brechen, aber "leider" schmeckte mir das Rauchen nie... na ja, dafür flog ich wieder für andere Tabu-Verstösse raus *lool*.
Was ist mit jugendlichen Rasern? Schnell (zu schnell) zu fahren, vermittelt ebenfalls das Gefühl der Freiheit, das nur durch Angst gebremst werden kann. Aber wir können es auch Verantwortungsgefühl nennen, wenn euch Angst nicht gefällt, obwohl es (wenigstens für mich) nichts anderes bedeutet. Ich trage Verantwortung, also habe ich Angst, dass...,dass, dass...
Und werden nicht gerade die Verbote und deren Ueberschreiten, d.h. die Vermittlung des Gefühls der Freiheit von der Werbung aufs Wunderbarste genützt? Ich denke doch und denke dabei gerade an Zigarettenwerbung (wird ja wahrscheinlich eben aus diesem Grunde vielerorts bereits verboten) und Autowerbung.
Und es gefällt mir ganz besonders, jetzt an dieser Stelle noch etwas unterbringen zu können, womit ich nicht genau wusste wohin.
Ich finde es lustig (und damit stehe ich wohl allein...macht gar nichts!), dass uns hier ausgerechnet drei (einen dritten füge ich flugs jetzt noch dazu *lol*)
südamerikanische Tabubrecher beschäftigen, gibt es in Europa keine mehr, wurden die verboten?
Da wäre zuerst (weil seit geraumer Zeit hier sehr angefeindet) der Kolumbianer Fernando Botero (geb. 1932), der die Frechheit *loool* besitzt, z.T. unheimlich füllige Menschen darzustellen. (Dass diese Menschen oft keine Gesichtszüge besitzen, und dass dahinter die Idee, Raum mit Mensch zu füllen, statt umgekehrt, steckt, das interessiert nicht soooo sehr, man beschäftigt sich nicht mit dem Künstler, sondern kritisiert unqualifiziert seinen Stil.)
Da wäre der Argentinier Javier Prato, der freche Jesus-Tabubrecher, der auch Atheisten/Agnostiker und Hüter des guten Geschmacks auf den europäischen Plan ruft. Auch dahinter steckt eine Idee, aber eben, es ist ja geschmacklos, sooo was gehört sich nicht.
(An dieser Stelle käme auch noch die Tabubrecherin Catherine Marie-Agnés Fal de Saint Phalle, auch und besser als Niki de Saint Phalle bekannt, die hier auch schon für Aufregung sorgte, ohne dass man sich mit ihrer Kunst näher beschäftigte, aber sie war Französin...bis sie den Schweizer Künstler Jean Tinguely heiratete und scheidet leider in dieser südamerikanischen Sündergruppe aus.)
Also kommt jetzt noch (weil alle guten Dinge...) der Peruanischer Tenor Juan Diego Flórez und bricht ein 74-jähriges Tabu, das euch vielleicht wenigstens ein Schmunzeln entlockt, in dieser so traurigen Runde:
An der Oper werden ja hervorragend gebrachte Arien oft mit Szenenapplaus belohnt. 1933 hat der russische Bass Shaliapin an der Scala eine Arie aus Barbiere di Siviglia so viel Applaus bekommen, dass er sich "gezwungen sah", die Arie nochmals zu singen. Der Stardirigent Arturo Toscanini verbot es in der Folge strengstens und alle hielten sich brav an dieses Verbot. Auch Callas und Domingo und wie sie alle hiessen... bis eben jetzt Floréz kam und die umjubelte Arie "Ah! Mes amis! aus Donizettis "La fille du régiment" halt nochmals sang. Verbot hin, Verbot her, soll doch der "grösste Dirigent" im Grabe rotieren. Und was machen die italienischen Medien (auf ihre Reaktion hat "man" mit angehaltenem Atem *lol* gewartet)? Unisono loben sie den Tenor nicht nur für seine Spitzenleistung, sondern auch für seinen Mut, das Tabu gebrochen zu haben!
Tja, so geht's manchmal dem Verbot.
Ich zitiere nicht sooo gern, weil so mancher grosser intellektueller Gedanke nicht so richtig in meinem kleinen Kopf passt, aber wenn ich mich bediene, dann klaue ich die schönsten und erst noch aus einem vollkommen anderen Zusammenhang. Es ging dabei um Algerien und das Zitat stammt von einem namenlosen Journalisten:
Das Schweigen, das uns auferlegt wird, tötet uns ein zweites Mal.
Soooo schön!
PS: Hat jemand bis zu Ende gelesen? Danke schön.