AW: Friedrich Nietzsche
Das passt vielleicht auch noch:
11.
Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist von dem
eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie
ausgeübt hat den Blick abzulenken und namentlich über den Werth,
den er sich selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant
war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er
sagte mit dieser Tafel in den Händen: das ist das Schwerste,
was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden
konnte. - Man verstehe doch dies werden konnte! er war
stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen
zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben.
Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und
rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze
und an dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres
zu entdecken - und jedenfalls neue Vermögen! - Aber
besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile
a priori möglich? fragte sich Kant, - und was antwortete
er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber
nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und
mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und
Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche
in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über
dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als
Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu
entdeckte: - denn damals waren die Deutschen noch moralisch,
und ganz und gar noch nicht real-politisch. - Es kam der
Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen
des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, - alle suchten
nach Vermögen. Und was fand man nicht Alles - in jener
unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen
Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies,
hineinsang, damals, als man finden und erfinden noch nicht
auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Vermögen für's
Übersinnliche: Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und
kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde
frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen
übermüthigen und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war,
so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe
verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt
und gar etwa mit moralischer Entrüstung behandelt; genug, man
wurde älter, - der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich
die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt:
voran und zuerst - der alte Kant. Vermöge eines Vermögens
- hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das - eine
Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine
Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen?
Vermöge eines Vermögens, nämlich der virtus dormitiva -
antwortet jener Arzt bei Molière,
quia est in eo virtus dormitiva,
cujus est natura sensus assoupire.
Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es
ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage wie sind
synthetische Urtheile a priori möglich? durch eine andre Frage zu
ersetzen warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?
- nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von
Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden
müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein
könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich:
synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht möglich sein:
wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter
falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit
nöthig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die
Perspektiven-Optik des Lebens gehört. - Um zuletzt noch der
ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche die deutsche
Philosophie - man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf
Gänsefüsschen? - in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht,
dass eine gewisse virtus dormitiva dabei betheiligt war: man
war entzückt, unter edlen Müssiggängern, Tugendhaften,
Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen
Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein
Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben,
der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz -
sensus assoupire . . . . .