Darüber hinaus muss man hier doch mal festhalten, dass Giacomo eine Engelsgeduld mit seinen Gästen als Koch und vor allem mit seinen Mitbewohnern hat. Wenn ich Menschen kostenlos bekochen würde, die es dann mit einer solchen Arroganz bedanken, wie er es beschrieben hat, da würde ich den Leuten sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen, auch wenn mich das vermutlich meinen Job kosten würde.
Es sollte einmal festgehalten werden, dass es trotz meines Ärgers immer nur eine Minderheit unter den Gästen war, die sich daneben benahm. Was uns dann oft genervt hat, das war, dass dann am Ende letztlich alle darunter zu leiden haben, weil man Regeln und Abläufe finden muss - oft mit Mehrarbeit verbunden - das in den Griff zu bekommen.
Wahrscheinlich ist es einfach auch eine völlige Gedankenlosigkeit von Beteiligten.
Wahrscheinlich werden in arabischen Ländern Menschen, die kochen oder servieren, als so eine Art Lakaien angesehen und es ist einfach üblich, seinen Müll auf den Boden zu werfen. Weil es einen Lakai geben wird, der das wegfegt. Das übernehmen die dann hier einfach 1:1, weil sie sich überhaupt nichts dabei denken. Und wenn man sich dann beschwert und mal sagt: Hey, was soll das? (Und besser: Machst Du das bei Deiner Mutter auch so?), dann schauen sie einen mit großen Augen an, als erzählte man da gerade etwas über die Relativitätstheorie.
Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. (Karl Valentin)
Es gibt Eigentümlichkeiten unter Flüchtlingen, und das sage ich als jemand, der selbst aus einer Flüchtlingsfamilie stammt. Meine Eltern und Großeltern sind 1945 aus Schlesien geflohen. Sie waren zwar Deutsche - und Gottseidank nicht so spießig - aber es gibt da schon merkwürdige Effekte, die ich schon als Kind und Jugendlicher nicht so wirklich verstand.
Und sonderlich beliebt waren sie auch nicht, als sie damals in den Westen kamen, Deutsche hin oder her ("jetzt kommen die Pollacken").
Solange die Schlesier noch in Schlesien waren, da haben sie Tango getanzt, das war damals neu und modern. Und kaum, dass sie im Westen waren, da gründen sie dann eine schlesische Volkstanzgruppe! Man wird Mitglied irgendwelcher Vertriebenenverbände, und schickt seine im Westen geborenen Kinder in Sommercamps ... Kinder, die die "verlorene Heimat" nie gesehen haben.
Mein Großvater war dann Abonnement einer gruseligen Schlesier-Zeitschrift, dem "Grafschaft Glatzer Botschafter" ... und meine Mutter ist dann tatsächlich mal nach Polen gereist, um sich das Haus ihrer Kindheit anzusehen.
Die ist dann da tatsächlich zu den Polen gegangen, die da heute wohnen und hat geklingelt - "darf ich mir ihre Wohnung ansehen?". Die waren nett und haben sie empfangen, außerdem kennen die Polen das ganze Zinnober. Albern fand ich das aber trotzdem. Mal zum Vergleich: Auch ich habe als Kind in einer anderen Mietswohnung gewohnt, aber gehe ich jetzt dahin und klingele da? Und würden mich die Leute, die da jetzt wohnen, nicht auch völlig entgeistert ansehen und denken: Was ist das denn für ein Depp?
Hin und wieder, wenn auch selten, hätte man es in meiner Familie veilleicht gern gesehen, ich wäre etwas "schlesischer" - aber was hatte ich denn mit Schlesien zu tun? Tatsächlich habe ich später einmal Wrozlaw (= Breslau) besucht, aber das war real wie gefühlt für mich Polen und für mich nicht anders, als ob ich Paris oder Kopenhagen besucht hätte. Eine Konsequenz meiner Biografie und der meiner Eltern und Großeltern ist sicher: Ich habe wenig Bezug zu so einem Begriff und Gefühl wie "Heimat". Heimat, das ist für mich da, wo ich gerade meinen Kopf auf das Kopfkissen lege.
Es steht zu befürchten: Die Menschen, die zu uns kommen, die sind nicht so intellektuell. Denn wer in den Heimatländern seine Existenz als Universitätsprofessor hat, der bleibt auch da.
Menschen mit Migrationshintergrund neigen dazu, ihre alte Heimat zu romantisieren und zu verklären. Sie sind dann national, religiös und identitär sichtbar konservativer, als sie es in ihren Heimatländern je waren. Denn wenn alles Äußere zusammenbricht, dann kann Stabilität nur noch aus der Identität kommen.
Den Schluss, den ich für mich persönlich daraus gezogen habe, ist, bestimmte, so leicht hingeworfene Schlagworte zu hinterfragen, wie etwa "Heimat" und "Tradition". Und um so länger ich darüber nachdachte, um so mehr habe ich diese Begriffe für mich dann auch verworfen.
"Tradition" - das ist so ein Begriff, den man immer erst dann ins Spiel bringt, wenn man keine anderen Argumente hat. Das ist so eine Tradition, das ist hier so Brauch ... aber was sagt das denn schon aus? Nichts anderes als: Das haben wir schon immer so gemacht, das haben wir noch nie so gemacht. Und nicht einmal ansatzweise darüber nachdenkt, dass auch die älteste Tradition irgendwann mal neu war. "Heimat" kann okay sein - aber oft genug ist es auch nur mehr eine Bilderbuchvorstellung einer "guten, alten Zeit", die vieles war, aber nicht besser, und ignoriert, dass mittlerweile auch die Oma ihre Tischdecken im Internet bestellt.
Ein Flüchtling aus einem islamischen Land macht hier ein riesen Gewese um seine Identität und vor allem auch seine Religion. Als ich als Touri in Marokko war, geriet ich mal auf diesem wuseligen Markt in Marrakesch in die Ausrufung des Mittagsgebetes. Ich dachte mir, jetzt ist es mal gut, Respekt zu zeigen und stellte mich in einem Akt der Bescheidenheit etwas abseits.
Auf dem Markt änderte sich allerdings so gut wie überhaupt nichts.
Die Marokkaner liefen genauso wie vorher und nachher umeinander, von Frömmigkeit, gar religiöser Inbrunst nicht den Hauch einer Spur ... stattdessen ging man, ganz profan, einfach weiter seinen Geschäften nach. Es war so, als läutete es wie bei uns die Mittagsglocke.
Was aber auffiel, das war mein Verhalten! Denn mir gegenüber war eine kleine Moschee, und ein Mitarbeiter von der Moschee sprach mich an: Ob ich denn Muslim sei, er hätte doch gerade gesehen, wie mich die Ausrufung zum Gebet berührt hätte. Ich gab ihm die Antwort, die man in Marokko bei solchen Fragen klugerweise immer gibt: Nein, ich bin Christ, und das möchte ich bleiben, aber es berührt mich und ich respektiere es.
... da würde ich nicht mehr mitmachen, weil ich nämlich persönlich ein zu dünnes Nervenkostüm habe, um so ein Verhalten auf Dauer zu ertragen. Ich bin in meinem Leben noch nie gewalttätig geworden, aber eben deshalb, weil ich weiß, wo ich mich einfach fernhalten muss, weil ich sonst früher oder später ausrasten würde. Ich bewundere daher vor allem Giacomos Stoizismus, denn er bewirtet diese Klientel ja nicht nur, nein, er lebt mit ihnen zusammen in einer Wohnung. Ich rege mich über ein solches respektloses Verhalten ja schon aus der Ferne auf, also wäre eine solche Wohnsituation für mich undenkbar.
Einfach ist das nicht, aber mehr aus anderen Gründen.
Man muss sich jeden Tag selbst hinterfragen, ohne in Kategorien wie "die" und "wir" zu verfallen. Denn es sind immer nur Einzelne, und deren pöbeliges Verhalten gilt dann oft auch in ihren eigenen Ländern (Stichwort: Ich als Touri in Marokko) als ungehörig. Ansonsten macht es einen auf Dauer aggressiv und man schaut auf die Menschen herab, und das ist niemals gut.
Irgendwann habe ich dann diesen Krampf mal zu entspannen versucht, indem ich blöde Witze gerissen habe, und das war keine schlechte Idee.
Menschen in Not sind eben auch depressiv, das darf man nie vergessen. Aber der Humor kann wenigstens dann mal für ein paar Minuten bewirken, dem eigenen, miesen Leben noch eine gewisse Ironie abzugewinnen.
Meine Wohnsituation habe ich mir nicht so ausgesucht, aber die Bedingungen könnten auch schlechter sein, das hatte ich auch schon. Ausrasten darf in keinem Fall, denn dann fliege ich hier von einem Tag auf den anderen heraus, und dann sind die Bedingungen schlechter. Mit positiven Methoden und Kooperation erreicht man immer mehr als mit negativen und Konfrontatation.
Schlimmstenfalls kann ich Dinge aussitzen ... cool bleiben und Nerven bewahren, erfahrungsgemäß rennen sich stolze Trottel so oder so früher oder später selber in die Kacke. Man agiert souverän und mit Methoden, die diese Einfaltspinsel dann eben nicht drauf haben: Höflich, Ergebnisorientiert, aber bestimmt und ggf. schriftlich. Und dann ist das eben auch immer eine ganz andere Nummer.