Ich habe mir mal den Artikel zu den Völkerschauen bei wiki angesehen. Es ist doch etwas harmloser, als ich befürchtet hatte. So, wie es in deiner Schilderung anklang (Menschen wie wilde Tiere in Käfigen auszustellen, vielleicht noch in Ketten gelegt, zum Gaudi des Publikums), war es letztlich nicht. Da es noch kein Fernsehen gab, war es echtes ethnologisches Interesse des Publikums an der Lebensweise fremder Völker. Heute findet man so etwas noch auf Mittelalter-Märkten, wo das damalige Leben möglichst authentisch nachgestellt wird, oder bei inszenierten Indianer-Dörfern (vielleicht noch mit echten Indianern, die den Federschmuck ihrer Ur-Großväter anlegen).
Wenn man sich einmal näher mit dem historischen Mittelalter befasst, dann stellt man schnell fest: Die heutigen Mittelalter-Märkte haben mit dem Mittelalter in etwa so viel gemein, wie eine Westernshow mit der amerikanischen Pionierzeit. Sie bedienen mehr unsere romatischen Vorstellungen der Zeit, als dass da irgend etwas authentisch wäre. Und nicht anders war es sicher auch mit den damaligen Völkerschauen.
In gewisser Weise ist das sogar heute noch so, und deshalb ist unser Bild in den Köpfen über den Kontinent Afrika oft verzerrt, auch wenn die Berichterstattung schon besser geworden ist.
Es gibt in Afrika Städte, die sind über 2.500 Jahre alt - und zeigt man uns die? Oder das moderne Leben Afrikas? Nein, man reist in die allerletzte Hinterprovinz und filmt irgendwelche Wilde, die im Baströckchen um das Lagerfeuer Hula-Hula tanzen. Aha, denken wir uns: Die Afrikaner! Ist doch irgendwie lieb, oder auch der edle Wilde (1), noch ganz unverdorben von den Lastern der Zivilisation.
Das hat sich, auch nicht zuletzt durch Grzmek und Konsorten, so in unsere Hirne eingebrannt, das jemand wie mein Onkel sich nicht vorstellen kann, an einem Ort wie Timbuktu könne es auch ein Postamt geben (er ist Briefmarkensammler). Und wenn ich ihm sage: Du, da gibt es nicht nur ein Postamt, sondern auch ein Handynetz und Internetcafés, dann schaut er mich an, als erzähle ich ihm etwas über eine Marskolonie.
Und selbst das sonst so moralinsaure YT spielt das mit. Das Rammstein-Video
Ausländer karikiert das (und den Kolonialismus), aber man darf schon staunen: Wenn sonst jeder Fetzen nackte Haut in YT sofort zensiert wird, so scheint dies für barbusige Afrikanerinnen nicht zu gelten. Die dürfen da halbnackt um das Lagerfeuer tanzen, es sind ja nur Afrikaner!
Daß damals manche von ihnen hier an Krankheiten gestorben sind, lag einfach daran, daß man vergessen hatte, sie zu impfen. Es geschah nicht aus Überheblichkeit oder aus Menschenverachtung. Ich denke, hier kann man Entwarnung geben.
Und, warum hat man "vergessen", sie zu impfen? Ganz einfach: Weil man überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat, es könne sich um Menschen handeln.
Deutschland ist ein klimatisch kühles Land, zumal im 19. Jh. und in Hamburg sowieso. Man mag sich kaum vorstellen, was man diesen Menschen sonst noch so alles zugemutet, bzw. zu was man sie gezwungen hat, da ihren leicht bekleideten Auftritt zu haben. Es scheint kaum denkbar, man betriebe so einen Aufwand, um eine solche Show nur an ein paar Wochenenden im Juli und August zu präsentieren. Da muss es auch nicht wundern, wenn da jemand an der Grippe stirbt oder an der Tuberkulose.
Anmerkung:
(1) Der edle Wilde
Der römische Autor Tacitus schrieb im 1. Jh. n. Chr. über die Germanen, ohne je in Germanien gewesen zu sein. Karl May schrieb über die Indianer, ohne je in Amerika gewesen zu sein (als er die Romane verfasste). Beide Autoren nutzen aber (mutmaßlich) die jeweils besten ethnologischen Quellen ihrer Zeit, von Autoren, die in diesen Ländern gewesen waren.
Aber das sind nicht ihre einzigen Gemeinsamkeiten.
Tatsächlich schufen beide Autoren, Tacitus wie May, ein Bild des "edlen Wilden", eines primitiven Barbaren, der aber noch unverdorben ist von der Zivilisation. Der edle Wilde mag ein Barbar sein, aber er ist standhaft in seiner Ehre und Moral. Tatsächlich geht es aber überhaupt nicht um die Beschreibung anderer Völker, sondern mehr darum, der eigenen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, wie verdorben sie durch die Zivilisation bereits ist.